Kerzen und Zeichnungen im Eingangsbereich zur Volksschule in St. Pölten erinnern im Mai 2012 an die Tat.
APA/ROLAND SCHLAGER
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Chronik

Vater tötete Sohn: Kein Versäumnis der Behörden

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat im Fall der Tötung eines achtjährigen Buben durch seinen Vater vor neun Jahren in einer Schule in St. Pölten entschieden. Den Behörden sei demnach kein Versäumnis nachzuweisen.

Der Bub war am 25. Mai 2012 von seinem Vater aus dem Unterricht geholt und in der Garderobe in den Kopf geschossen worden. Der Beschuldigte verübte kurz nach der Bluttat Selbstmord. Der Achtjährige erlag zwei Tage später seinen schweren Verletzungen. Die Causa wurde von der Mutter des Kindes an den EGMR in Straßburg herangetragen. Dem Antrag der Beschwerdeführerin auf Verweis der Rechtssache an die Große Kammer wurde stattgegeben. „Eine Premiere“, so der Bundesverband der Gewaltschutzzentren, der laut der Aussendung auch eine Stellungnahme als Drittpartei abgab, „wurde doch bis dahin kein Fall häuslicher Gewalt gegen Österreich vor der Großen Kammer verhandelt“.

„Kein Versäumnis der österreichischen Behörden“

Aufgrund der CoV-Pandemie fand die Verhandlung vor der Großen Kammer des EGMR im Juni 2020 per Videokonferenz statt. Am Dienstag erging das Urteil. Darin stellte die Große Kammer des EGMR laut dem Bundesverband der Gewaltschutzzentren mit zehn zu sieben Stimmen fest, „dass dem Staat Österreich keine Verletzung im Sinn des Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Recht auf Leben) vorzuwerfen ist“.

„Der Gerichtshof kam zu der Ansicht, dass die Behörden eine eigenständige, proaktive und umfassende Risikobewertung hinsichtlich der möglichen Ausübung von Gewalt vorgenommen hatten, aufgrund derer ein polizeiliches Betretungsverbot für die Wohnung erlassen worden war. Deshalb wurde diesbezüglich auch kein Versäumnis der österreichischen Behörden gesehen“, so die Gewaltschutzzentren, die betonten, dass sie „anderer Ansicht“ seien.

Bewertung sah keine reale und unmittelbare Gefahr

„Eine umfassende Risikobewertung bedarf einer differenzierteren Prüfung der bekannten und hinlänglich erforschten Risikofaktoren in Zusammenhang mit schwerer häuslicher Gewalt als es die Prüfung bei Ausspruch eines polizeilichen Betretungsverbotes vorsieht“, wurde in der Aussendung betont. „Vor allem besteht ein wesentlicher Unterschied darin, dass die Gefährdungsprognose beim Betretungsverbot das Risiko weiterer Gewalt beschreibt, wohingegen die Einschätzung des Risikos für eine schwere Gewalttat bis hin zum Mord die Prüfung darüber hinausgehender Risikofaktoren verlangt.“ Der EGMR habe es auch nicht als problematisch aufgezeigt, „dass seitens der Staatsanwaltschaft keine eigenständige Gefährdungseinschätzung vorgenommen worden war“.

Vom EGMR wurde den Gewaltschutzzentren zufolge auch festgestellt, „dass die von der Polizei vorgenommene Risikobewertung keine reale und unmittelbare Gefahr eines Angriffs auf das Leben des Kindes ergeben hatte“. Auch hier sieht der Bundesverband „das Problem, dass Polizei und Behörden fälschlicherweise davon ausgehen, dass Kinder nicht gefährdet sind, wenn der Mann vorwiegend oder ausschließlich gegenüber der Frau gewalttätig ist oder Drohungen ausspricht“. Gewalttätige Männer wüssten, dass für ihre Partnerinnen die Kinder das Wichtigste seien, und würden diese töten, um ihre Partnerin zu treffen.

Anwältin: „Das Ergebnis war knapp“

„Es ist der erste Fall von häuslicher Gewalt, der bei der großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte angenommen wurde. Das Ergebnis war mit zehn zu sieben Stimmen knapp. Das Wichtige an dem Urteil ist, dass wesentliche Grundsätze festgestellt wurden, wie der Staat bei häuslicher Gewalt vorgehen muss. Es wurde festgestellt, dass der Staat bei häuslicher Gewalt eine umfassende Risikobewertung durchführen muss“, so die Anwältin der Mutter, Sonja Aziz, gegenüber noe.ORF.at.

„Der Opferschutz und die Gewaltprävention haben hohe Priorität für die österreichische Bundesregierung. Klares Ziel in unserem Regierungsprogramm war es, die Bekämpfung jeder Gewalt gegen Frauen und Kinder voranzutreiben und den Gewaltschutz zu stärken. In den letzten zwei Jahren war uns wichtig mit allen relevanten Akteurinnen und Akteuren gemeinsam Handlungen und Maßnahmen zu setzen“, heißt es in einer Stellungnahme aus dem Ministerium für Inneres

Ministerium: „Ziel ist, der Gewalt ein Ende zu setzen“

Auch wenn der EGMR im vorliegenden Fall keine Konventionsverletzung festgestellt habe, arbeite Österreich an „einer stätigen Verbesserung des Gewaltschutzes. Die jüngste Häufung an Frauenmorden zeigt uns, dass wir auch in Zukunft stark gefordert bleiben, die Präventionsarbeit und den Opferschutz weiter zu verbessern. Unser gemeinsames Ziel ist, der Gewalt – in ihren vielen Ausprägungen und mit vereinten Kräften – ein Ende zu setzen. Jede Frau und jedes Kind sollten sich in jeder Lebenslage sicher fühlen und sein können.“