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Kultur

Franz Kafkas Grenzerfahrung im Waldviertel

In den letzten Jahrzehnten war die Grenze zwischen Gmünd im Waldviertel und České Velenice in Tschechien kein Thema. Vor 101 Jahren erlebte Dichter Franz Kafka dort besondere Grenzerfahrungen – als er seine Muse im Waldviertel treffen wollte.

Der heutige Bahnhof im tschechischen České Velenice war bis 1920 der imposante Bahnhof von Gmünd. Er war damals einer der modernsten in Mitteleuropa mit Unterführungen, Elektrizität und einem Oberleitungsbus hinein in die Stadt. Hier auf halber Strecke zwischen Prag und Wien haben sich Franz Kafka und seine heimliche Geliebte Milena Jesenská für ein Wochenende getroffen. „Dieses Bahnhofsrestaurant hat noch in etwa den Charme von damals“, freute sich Thomas Samhaber, der Herausgeber des Buches „Begegnung an der Grenze“, als noe.ORF.at ihn zum Interview und „Sightseeing“ in České Velenice traf.

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Der Bahnhof Gmünd nach der Teilung. Im zweiten Weltkrieg wurde er stark beschädigt.

Kafka war im Vorfeld glücklich, auch bezüglich des Hotels gegenüber dem Bahnhof, eine so einfache Lösung für zukünftige Treffen gefunden zu haben. Doch die Politik spielte dem Paar einen Streich. In den Friedenverträgen von Saint Germain beanspruchte die junge Tschechoslowakische Republik den Bahnhof für sich, Gmünd wurde just in diesem Sommer 1920 geteilt. Österreich bekam eine provisorische „Haltestelle Gmünd“.

Kafkaeske Situation rund um das Treffen

„Franz Kafka musste ein Visum beantragen für die Durchreise nach Österreich, obwohl er – aus Prag kommend – die Tschechoslowakische Republik gar nicht verlässt und der Bahnhof Gmünd neuerdings nicht mehr in Österreich liegt. Milena Jesenská überquert zwar die Grenze – sie gilt als Österreicherin, weil sie in Wien verheiratet ist – und kommt aus der Hauptstadt zum Gmünder Bahnhof, der in der Tschechoslowakei liegt“, schilderte Samhaber die verworrene Situation.

Und auch Kafka schüttelte den Kopf. So schrieb er am 2. August 1920 in einem Brief: „Der Gmündner Bahnhof ist nämlich tschechisch, die Stadt österreichisch; sollte die Passdummheit so weit getrieben werden, daß ein Wiener zum Passieren des tschechischen Bahnhofes einen Pass braucht? Dann müssten auch die Gmünder, die nach Wien fahren, einen Pass mit einem tschechischen Visum haben. Das kann ich gar nicht glauben.“

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Visum für Gmünd in Franz Kafkas Reisepass

Harald Winkler, der Stadtarchivar und Leiter des zeitgeschichtlichen Museums in Gmünd erklärte dazu: „Man muss sich das so vorstellen: Es herrschte das blanke Chaos in jenen Wochen. Wenn man sich mit jemandem ein Treffen ausgemacht hat in Gmünd, so wusste man nicht, ist der Bahnhof Gmünd gemeint oder die Haltestelle. Man wusste nicht, wie die Passformalitäten genau waren. Man wusste nicht, erwischt man einen Grenzwachebeamten, der gnädig war oder jemanden, der es genau nehmen wollte.“ In den späteren 1920er-Jahren war die Grenze viel durchlässiger und berechenbarer, ergänzte Harald Winkler.

Eine vielfach grenzüberschreitende Beziehung

Er war der deutschsprachige Jude aus Prag, sie die tschechisch-sprachige Katholikin in Wien. Diese Liebe zwischen Franz Kafka und Milena Jesenská hatte in vielfacher Hinsicht Grenzen überschritten, die nationalen, die religiösen, aber auch die Grenzen der Konvention: Er war in Prag das dritte Mal verlobt, sie in Wien mit dem Schriftsteller Ernst Pollack verheiratet. Beide waren in ihren bestehenden Beziehungen unglücklich und beide wussten wohl nicht genau, wie diese besondere Liebe in ihrem Leben Platz finden sollte.

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Portrait Franz Kafkas im Haus der Gmünder Zeitgeschichte

„Ich liebe dich also, du Begriffstützige, so wie das Meer einen winzigen Kieselstein auf seinem Grunde lieb hat, genauso überschwemmt dich mein Liebhaben“, schrieb Kafka am 9. August 1920 poetisch an Milena. Sie schrieb 1921 über Kafka in einem Brief an Max Brod: „Dass er mich liebt, weiß ich…und dabei gibt es auf der ganzen Welt keinen zweiten Menschen, der seine ungeheure Kraft hätte: diese absolute unumstößliche Notwendigkeit zur Vollkommenheit hin, zur Reinheit und zur Wahrheit.“

Jesenská lernte Kafka in der Prager Intellektuellen-Szene in Prag kennen. Beide besuchten zum Beispiel regelmäßig das Café Arc, wo sich der deutschsprachige „Prager Kreis“ der Literaten traf. Max Brod, der spätere Herausgeber der Werke Kafkas, ist einer davon, Franz Werfel, Egon Erwin Kisch gehörten auch dazu. In diesem Künstlerkreis lebte auch Ernst Pollak, der als einer der ersten Kafkas schriftstellerisches Talent erkannte. Milena heiratete Pollak gegen den Willen ihres Vaters und ging mit ihm nach Wien. Dort findet ihr Ehemann bald wieder Anschluss in den Kaffeehäusern der Stadt und betrügt „notorisch“ seine Frau, wie es in einem Buch heißt.

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Portrait Milena Jesenskás im Haus der Gmünder Zeitgeschichte

Milena Jesenská – die interessante Unbekannte

Milena Jesenská war eine starke emanzipierte Frau und wichtig für Kafka, sie hat seine deutschen Texte in Wien ins Tschechische übersetzt. Ihr Vater war Arzt in Prag. Sie besuchte das „Minerva“, das Elite-Gymnasium der Stadt, das erste Gymnasium für Mädchen in der K.u.K.-Monarchie. Mit 16 Jahren besaß sie eine beachtliche Bibliothek mit englischer, spanischer und französischer Literatur.

Sie war mehrsprachig und an allem Neuen interessiert, dem Kino, der Mode, der zeitgenössischen Literatur. In Wien muss sie sich ihr Leben selbst finanzieren. Sie arbeitet als Kofferträgerin, Tschechisch-Lehrerin oder Journalistin und übersetzt für Sigmund Freud Texte ins Tschechische.

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Plakat zum Festival „Übergänge – Prechody“ in Gmünd

Kultur-Festival „Übergänge – Prechody“ startet

„Während Franz Kafka heute unbestritten zu den größten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt, ist Milena Jesenská vorwiegend als ‚Kafkas Freundin‘ bekannt, ihre großartigen Essays und Schriften, ihre Aktivitäten im Widerstand gegen das Nazi-Regime die sie mit dem Tod im Konzentrationslager Ravensbrück bezahlte, kennen hingegen nur Wenige“, schrieb Thomas Samhaber in seinem Buch „Begegnung an der Grenze“, das er 2020 herausgegeben hat, 100 Jahre nach dem Treffen der beiden.

Die Geschichte von Franz Kafka und Milena Jesenská ist auch Thema beim Kultur-Festival „Übergänge – Prechody“, das am 22. Juli in Gmünd und České Velenice beginnt. Am Grenzübergang zwischen den beiden Orten und Staaten wird es eröffnet. 40 Veranstaltungen in vier Tagen an zehn verschiedenen Schauplätzen wird es geben. Ein Symposium ist der Begegnung der beiden Liebenden gewidmet. „Zoltán wird beerdigt“, heißt beispielsweise ein Drama, in dem ein ungarisch-sprachiges Theater aus der Slowakei und der Ukraine, unter der Leitung von Miklós Zelei, die Absurdität von Grenzen inmitten eines ungarischen Dorfes thematisiert.