Anna Kiesenhofer gewinnt das Rad-Straßenrennen in Tokio am 25. Juli 2021
APA/AFP/Greg Baker
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TOKYO 2020

Anna Kiesenhofer holt Gold im Rad-Straßenrennen

Anna Kiesenhofer aus Niederkreuzstetten (Bezirk Mistelbach) hat am Sonntag für die große Sensation bei den Olympischen Spielen in Tokio gesorgt. Als Außenseiterin eroberte die 30-Jährige die Goldmedaille im Rad-Straßenrennen der Frauen.

Gleich nach dem Start initiierte sie eine fünfköpfige Spitzengruppe, ließ in der Folge die Mitstreiterinnen auf der 137-km-Strecke zurück und triumphierte nach einer 41-km-Solofahrt. Es ist das erste Edelmetall des ÖOC-Teams in Japan.

Die gebürtige Weinviertlerin holte das erste Rad-Olympia-Gold für Österreich seit Adolf Schmal 1896 im Zwölf-Stunden-Rennen in Athen und die erste Goldene seit den zwei Siegen durch Triathletin Kate Allen und den Tornado-Segler Roman Hagara/Hans Peter Steinacher 2004 in Athen. Im Ziel auf dem Fuji-Speedway triumphierte sie mit 1:15 Minuten Vorsprung auf die Niederländerin Annemiek van Vleuten und 1:29 auf die Italienerin Elisa Longo Borghini, die auch schon 2016 in Rio Dritte war.

„Das ist unglaublich. Sogar als ich über die Linie gefahren bin, dachte ich ‚Ist es nun vorbei, muss ich weiterfahren?‘“, erklärte die selbst überraschte Kiesenhofer. „Es war eine kleine Hoffnung da, aus einer Gruppe eine Medaille zu holen und ich habe es geschafft.“

Kiesenhofer über ihren Sieg als „Underdog“

Für Goldmedaillengewinnerin Anna Kiesenhofer hat am Sonntag „alles gepasst“. Sie hatte den Mut zu attackieren und konnte sich zum perfekten Zeitpunkt von der übrigen Gruppe absetzen. Zudem hatte sie ihrer Meinung nach den Vorteil, von der Konkurrenz als „Underdog“ gesehen zu werden, da sie einer bekannteren Fahrerin wohl nicht so viel Vorsprung gelassen hätte.

Kiesenhofer wurde von den Gegnerinnen unterschätzt

Die Mathematikerin düpierte mit dem frühen Angriff und dem Durchhalten bis ins Ziel, das im modernen Radsport seinesgleichen sucht, die von den Niederländerinnen angeführte Konkurrenz. Die Asse wie Rio-Olympiasiegerin Anna van der Breggen und Ex-Weltmeisterin Van Vleuten verrechneten sich, sie hatten die ihnen weitgehend unbekannte Wissenschaftlerin und Rad-„Amateurin“ offensichtlich unterschätzt.

Und im Fall von Van Vleuten ohne Funkverbindung zum Betreuerauto auch nicht um die exakte Rennsituation gewusst. Denn die früh in einen Sturz verwickelte 38-Jährige hatte geglaubt, die Ausreißerinnen seien eingeholt und war jubelnd ins Ziel gerollt. „Es gab große Verwirrung, wir haben einander gefragt, wer gewonnen hat“, sagte Van Vleuten und kritisierte das Reglement, das anders als auf der WorldTour keinen Funk erlaubt. „Im wichtigsten Rennen in vier Jahren keine Kommunikation zu erlauben, ist nicht professionell.“ Sie sei enttäuscht, sollte aber auch stolz sein, merkte die dreifache Ex-Weltmeisterin nach ihrer ersten Olympiamedaille an. „Ich wollte zeigen, was mit 38 Jahren noch möglich ist.“

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Anna Kiesenhofer in der Dreiergruppe
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Anna Kiesenhofer mit ihren Fluchtgefährtinnen Omer Shapira und Anna Plichta (v.r.)
Anna Kiesenhofer während des Radstraßenrennens in Tokio
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Anna Kiesenhofer während des Radstraßenrennens in Tokio
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Anna Kiesenhofer während des Radstraßenrennens in Tokio
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Anna Kiesenhofer bei der Zielankunft beim Radstraßenrennen in Tokio
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Anna Kiesenhofer nach dem Rennen
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Mit der richtigen Taktik Gold geholt

Kiesenhofer hatte schon Minuten zuvor alles klar gemacht. „Ich wusste, dass ich die stärkste der Spitzengruppe war. Ich bin in der Abfahrt recht gut, und dann war es nur noch ein Einzelzeitfahren bis ins Ziel“, schilderte die Siegerin den vorentscheidenden Moment, in dem sie sich von den zwei verbliebenen Fluchtgefährtinnen abgesetzt hatte.

Diese wurden eingeholt – für die ÖRV-Fahrerin, die sich in einem internen und ob des Modus auch kritisierten Ausscheidungsbewerb das Tokio-Ticket gesichert hatte, erwies sich die Taktik als goldrichtig. In ähnlicher Manier hatte Patrick Konrad am 13. Juli eine Etappe der Tour de France gewonnen, im Olympia-Bewerb am Samstag landete er als Bester des ÖRV-Trios beim Sieg des Ecuadorianers Richard Carapaz an der 18. Stelle.

Die letzten Kilometer seien die härtesten ihrer Karriere gewesen, erklärte Kiesenhofer. „Meine Beine waren völlig leer. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so verausgabt, ich konnte kaum noch treten, es war keine Energie mehr da.“ Sie habe in den letzten eineinhalb Jahren so viel für diesen speziellen Tag geopfert. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das so vollende. Ich hätte es auch für einen Top-15-Platz gemacht, aber nun diese Belohnung bekommen zu haben, das ist unglaublich.“

Anna Kiesenhofer beim Rad-Straßenrennen in Tokio am 25. JUli 2021
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Die Überraschungssiegerin hatte mit einem Lächeln und dann ungläubigem Kopfschütteln nach 3:45 Stunden die Ziellinie überquert. Dort sank sie völlig verausgabt auf den Asphalt, weinend und doch voller Freude. Wenig später erhielt sie vom Großherzog von Luxemburg, Henri von Nassau, die Goldmedaille. Im Rad-Dress atmete sie bei der Bundeshymne auf dem Siegespodest noch einmal tief durch.

„Ich mache lieber Hobbysport“, sagte sie vor Tokio

Kiesenhofer hatte die 2017 begonnene Profikarriere bei einem belgischen Team noch im gleichen Jahr wieder beendet. „Ich habe gemerkt, dass der Profisport für mich ein zu großer körperlicher und psychischer Stress ist und ich lieber nur Hobbysport mache“, betonte sie im Vorfeld der Spiele.

Es folgten zwei Jahre ohne Rennen und ab 2019 ein Neubeginn mit jeweils nur ausgewählten Bewerben. Neben einem internationalen Sieg bei der Ardeche-Rundfahrt 2016 hat sie „nur“ Erfolge in der Heimat vorzuweisen, zuletzt drei ÖRV-Titel im Einzelzeitfahren und einen 2019 im Straßenrennen.

Triumph nach einer 41-Kilometer-Solofahrt

Der 55 kg leichten Österreicherin, im Teamauto von Nationaltrainer Klaus Kabasser betreut, fehlt die Erfahrung von großen Straßenrennen. Im engen Pulk fühlt sie sich nicht so wohl. Daher fuhr sie die ersten, neutralen Kilometer bis zum Start auch einige Meter hinter dem Feld. Doch nachdem das Rennen bei 34 Grad Hitze auf dem hügeligen Kurs mit dem Fuji Sanroku (1.451 m) als höchstem Punkt freigegeben war, trat Kiesenhofer gleich voll an.

Im Finish kamen der Wahl-Schweizerin, die Training und Ernährung selbst plant, die Qualitäten im Einzelzeitfahren zugute. Für diese Disziplin hatte Österreich aber für die Sommerspiele keinen Quotenplatz erhalten. „Wenn ich tauschen könnte, wäre mir das Einzelzeitfahren lieber“, hatte Kiesenhofer vor ihrem Start zur APA gemeint. Diese Ansicht hat sie am Sonntag mit einer der größten Überraschungen in diesem Sport wohl revidiert.

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Siegerehrung in Tokio im Damen-Straßenrennen mit Annemiek Van Vleuten (NED/Platz 2) , Siegerin Anna Kiesenhofer und Elisa Longo Borghini (ITA/Platz 3. ). –
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Glücklich bei der Siegerehrung: Anna Kiesenhofer (M.) mit Gold, neben ihr die Niederländerin Annemiek van Vleuten (l.) als Zweite, Bronze holte sich die Italienerin Elisa Longo Borghini (r.)
Anna Kiesenhofer bei der Siegerehrung
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Siegerehrung nach dem Rad-Straßenrennen in Tokio
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Siegerehrung nach dem Rad-Straßenrennen in Tokio
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Siegerehrung nach dem Rad-Straßenrennen in Tokio
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Siegerehrung nach dem Rad-Straßenrennen in Tokio
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Anna Kiesenhofer mit der Goldmedaille
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Anna Kisenhofer über ihre Taktik im Rennen

„Es fühlt sich unglaublich an. Ich konnte es nicht glauben. Selbst als ich die Ziellinie überquert habe, habe ich mir gedacht: Ist es wirklich aus? Muss ich noch weiterfahren? Ich hatte die Attacke bei Kilometer null geplant und war froh, in Führung gehen zu können. Davon konnte ich nicht ausgehen, da ich nicht gut darin bin, im Peloton zu fahren. Ich war froh, dass ich nicht zu nervös war, bin einfach drauflosgefahren. In der Ausreißergruppe haben wir mehr oder weniger zusammengearbeitet – das war hilfreich. Ich habe gemerkt, dass ich am stärksten in der Gruppe war, und wusste, ich habe den Anstieg vor der langen Abfahrt. Ich bin ziemlich gut bei Abfahrten, dann war es wie ein Zeitfahren bis ins Ziel.“

Freude und Jubel über die erste Goldmedaille in Tokio

Nach dem Rad-Straßenrennen der Frauen und der Goldmedaille der Österreicherin Anna Kiesenhofer am Sonntag bei den Olympischen Spielen in Tokio gab es zahlreiche Reaktionen.

Harald Mayer, Präsident des Österreichischen Radsport-Verbandes (ÖRV), sagte zu Kiesenhofers Sieg: „Diese Medaille ist ein weiterer riesiger Schritt für den österreichischen Frauenradsport. Anna Kiesenhofer wurde heute für eine tolle Fahrt, bei der sie Mut, Kraft und Selbstvertrauen zeigte, mit Gold belohnt."

ÖRV-Sportdirektor Christoph Peprnicek ergänzte: "Ich bin komplett fertig, ich glaube das noch immer nicht. Wir haben gewusst, dass sie am Berg sehr stark ist. Wir haben auch gewusst, dass eine Chance in der Gruppe besteht, aber mit Gold hat, glaub ich, keiner gerechnet. Wir freuen uns natürlich riesig.“

Anna Kiesenhofers Steckbrief

Geboren: 14. Februar 1991
Wohnort: Niederkreuzstetten und Lausanne
Größe/Gewicht: 1,67 m/55 kg
Team: Cookina Graz

Größte Erfolge:
Olympia-Gold Straßenrennen 2021 Tokio; Staatsmeisterin Straße 2019 und Zeitfahren 2019, 2020 und 2021; EM-Fünfte Einzelzeitfahren 2019; WM-18. Einzelzeitfahren 2020; Gesamt-Zweite Ardeche-Rundfahrt 2016; Gesamt-Dritte Ardeche-Rundfahrt 2020

Bundespräsident Alexander Van der Bellen (auf Twitter): „Anna Kiesenhofer, was für eine Leistung! Ich gratuliere sehr herzlich zu Gold im Radstraßenrennen der Damen. Die erste Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Großartig!“

Vizekanzler und Sportminister Werner Kogler (Grüne, auf Twitter): „Bravo Anna Kiesenhofer! Gold beim Rad-Straßenrennen. Ich gratuliere herzlich!“

Karl Stoss, Präsident des Österreichischen Olympischen Comitees (im ORF): „Das zeigt einmal mehr, was alles machbar und möglich ist im Leben. Eine Frau, die eigentlich ihre Karriere beendet hat. Eine Frau, die einmal Profi war, dann aufgehört zwei Jahre, auch verletzungsbedingt pausiert hat. Dann fährt sie hier auf der Straße zu Gold – weit überlegen. Ich freue mich unglaublich für sie, für den Radsport, für Österreich. Das Olympia-Team ist hoch motiviert, und hoffentlich folgen da noch andere Medaillen.“

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP): „Gold für Österreich! Herzliche Gratulation an Anna Kiesenhofer zu dieser großartigen Leistung bei den Olympischen Spielen in Tokio!“

Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner und Sportlandesrat Jochen Danninger (beide ÖVP): „Anna Kiesenhofer kam als Außenseiterin zu diesen Olympischen Spielen und hat mit ihrer Leistung heute Sportgeschichte geschrieben. Man muss schon sehr weit in den Annalen der österreichischen Sportgeschichte zurückblättern, um eine vergleichbare Ausnahmeleistung zu finden. Das war heute eine sensationelle Fahrt, die alle sportbegeisterten Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher mit Stolz erfüllt.“

ÖOC-Generalsekretär Peter Mennel: „Ich bin sprachlos. Das war ein sporthistorischer Gänsehautmoment, wie man ihn nur ganz selten erlebt. Ich kann Anna zu diesem Husarenritt und dem Österreichischen Radsportverband nur gratulieren.“

Sport-Austria-Präsident Hans Niessl: „Nicht nur, dass sie Olympisches Gold gewonnen hat, auch die Art und Weise, wie sie es tat, war einfach sensationell! Gerade in Zeiten wie diesen ist diese Goldmedaille ein wichtiges, starkes Signal des österreichischen Sports.“

Roman Hagara, zweifacher Olympiasieger im Tornadosegeln: "Liebe Anna, ich ziehe meinen Hut und gratuliere dir ganz herzlich zu dieser außergewöhnlichen Leistung. Olympia hat keine Regeln. Ganz einfach: Der oder die Beste gewinnt – enjoy!“