Sonja Gobara im Gespräch mit Robert Friess
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„Ganz Persönlich“

Autismus: Heimunterricht oft „Katastrophe“

Bei immer mehr Kindern wird Autismus diagnostiziert. Für Betroffene brachte die Pandemie oft Entwicklungsrückschritte. Die Leiterin des bundesweit einzigen Autismuszentrums für Kinder warnt im Interview vor erneuten Schulschließungen.

Bei immer mehr Kindern wird Autismus diagnostiziert. Schätzungen zufolge ist jedes 100. Kind betroffen. In St. Pölten wurde Anfang 2020 das erste Autismuszentrum Niederösterreichs eröffnet. In seiner jetzigen Form ist es auch österreichweit einzigartig. Unterstützung und Therapien finden dort nicht nur Kinder, sondern auch deren Familien.

Autismus ist nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation WHO als tiefgreifende Entwicklungsstörungen eingestuft. Die Störung liegt bereits bei der Geburt vor und tritt in den ersten Lebensjahren auf. Allerdings gibt es zahlreiche Erscheinungsformen und Schweregrade der Ausprägung. Daher wird die Erkrankung, die eine komplexe Störung des zentralen Nervensystems ist, oft erst sehr spät erkannt und Betroffene haben oft einen langen Leidensweg hinter sich, bevor sie Diagnosen und Therapien erhalten. Im persönlichen Gespräch mit noe.ORF.at erzählt Sonja Gobara, die Leiterin des Atsmuszentrums Sonnenschein in St. Pölten, von oft falschen Vorurteilen gegenüber Erkrankten, warum die erneute Schulschließungen eine „Katastrophe“ wären und von einem persönlichen Schicksalsschlag.

noe.ORF.at: Frau Gobara, wir sind hier in einem Therapieraum des Autismuszentrums. Im Februar 2020 haben Sie eröffnet, und ganz kurz darauf kam der Lockdown. Wie war das für Sie?

Sonja Gobara: Das war sehr bitter für uns, für die Patientinnen und Patienten und deren Familien. Das Gebäude wurde erst Ende Jänner fertiggestellt, im Februar haben wir ganz groß die Eröffnung gefeiert, es kamen die letzten Möbel für das Wartezimmer und dann durften wir plötzlich keine Patienten mehr behandeln. Das war sehr schmerzlich für uns alle. Wir haben es aber geschafft, auch auf den dringenden Wunsch der Eltern hin, sehr rasch wieder in die Versorgung zu kommen, vor allem in die Kontinuität der Versorgung der Kinder und Familien.

noe.ORF.at: Rund ein Prozent der Bevölkerung ist von Autismus betroffen. Wie wichtig ist es, Autismus bereits früh zu erkennen?

Gobara: Sehr wichtig! Vor allem bei den frühkindlichen schwerst betroffenen Formen ist es essentiell, die Kinder rechtzeitig einer Diagnostik und einer spezialisierten Einrichtung zuzuführen und die entsprechende Therapie zu beginnen. Wie bei anderen Störungen braucht es teilweise sehr lange bis die Kinder überhaupt einer Diagnostik zugeführt werden.

Das Durchschnittsalter der zugewiesenen Kinder lag ursprünglich bei 7,7 Jahren. Wir wollen die Kinder möglichst früh bei uns aufnehmen und haben uns auf möglichst frühe, intensive Therapie von Kindern mit frühkindlichem Autismus spezialisiert. Genau das ist uns gut gelungen, das diese Kinder jetzt immer jünger werden. Das Durchschnittsalter aller hier betreuten Kinder liegt derzeit bei 4,4 Jahren – das ist ein großer Erfolg in Richtung Aufmerksamkeit und Bewusstseinsbildung für diese schwere und tiefgreifende Entwicklungsstörung.

Sonja Gobara
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noe.ORF.at: Was sind gerade in diesem frühen Stadium Anzeichen, dass ein Kind Autismus hat? Worauf müssen Eltern hier aufpassen, wie erkennen sie, wenn ihr Kind einen Therapiebedarf hat?

Gobara: Bei den schwerstbetroffenen Formen merken es die Eltern oft sehr früh, aber haben dann lange Wege, um zu einer Diagnostik zu kommen. Die Kinder entwickeln teilweise keine Sprache, lautieren auch nicht, entwickeln keinen Blickkontakt, keine gemeinsame, geteilte Aufmerksamkeit, kein Spiel. Außerdem reagieren sie auch kaum auf Spielangebote oder nicht einmal auf ihren Namen, schauen durch ihre Eltern hindurch und zeigen auch zum Teil ausgeprägte motorische Stereotypien, wie wir das nennen. Das kann zum Beispiel das Flattern mit den Händen sein. Zum Teil haben sie auch sensorische Auffälligkeiten und sind in ihrer Wahrnehmung deutlich anders als andere Kinder.

noe.ORF.at: Kann Autismus vollständig geheilt und therapiert werden?

Gobara: Leider nein. Genau deswegen versuchen wir, die Kinder und deren Familien möglichst früh in der Betreuung zu übernehmen, damit wir die Kinder und deren Eltern unterstützen, um mit dieser schweren Form der Entwicklungsstörung umzugehen. Wir ermöglichen sozusagen eine Partizipation in allen Lebensbereichen der Kindern – also im Kindergarten, in der Schule und in jeder anderen Interaktion mit ihrer Umgebung. Das schaffen wir, indem wir nicht nur die Kinder ganz intensiv behandeln, sondern vor allem auch die Eltern trainieren und sie in ihrer Kompetenz im Umgang mit dem Kind stärken. Das macht das Erfolgsgeheimnis einer umfassenden Betreuung aus.

noe.ORF.at: Wie groß ist die Belastung für Eltern, deren Kinder autistisch sind?

Gobara: Die Eltern haben die große Schwierigkeit, dass sie mit den üblichen Erziehungskonzepten, die sie ja zum Teil schon von älteren Geschwisterkindern kennen, bei diesen Kindern nicht erfolgreich sind. Dadurch entsteht ein Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit und das Gefühl, mein Kind nicht zu verstehen, nicht zu wissen, was mein Kind von mir will. Gleichzeitig erkenne ich aber die Not meines Kindes, sich nicht entsprechend mitteilen zu können. Viele der frühkindlichen Autisten verfügen ja nicht über Sprache in unserem Sinn. Kommunikation und Mitteilungsmöglichkeiten zu schaffen, ist somit ein ganz wichtiger Ansatz in der Therapie.

Oft sind die Eltern auch durch hyperaktives Verhalten der Kinder, die nicht zum Halten sind – im wahrsten Sinne des Wortes – sehr beeinträchtigt. Sie sind auch zum Teil isoliert, weil es sehr schwierig ist, sich mit solchen Kindern draußen zu bewegen, etwa auf Spielplätzen oder beim Einkaufen. Oftmals haben die Eltern auch finanzielle Probleme, weil es kaum möglich ist, neben der Betreuung so eines Kindes in der Arbeitstätigkeit zu bleiben oder diese nach der Geburt wieder aufzunehmen.

Medial verbreitete Bilder oft klischeebehaftet

noe.ORF.at: Viele von uns kennen Autismus als Erkrankung aus dem Film „Rain Man“, 1988 erschienen, mit Dustin Hoffman in der Hauptrolle. Viele wurden da erst auf diese Krankheit aufmerksam. Ist das ein Film, der mit Klischees spielt, oder hat er geholfen, Bewusstsein für Autismus zu schaffen?

Gobara: Das ist ganz klar ein Film, der mit Klischees spielt. Es gibt diese Menschen, wie im Film dargestellt, sie sind aber nur ein Teil jener, die in dieses Spektrum von Autismusstörungen hineinfallen. Der Film hat ein Konstrukt in den Köpfen der Menschen geschaffen, aber natürlich hat er auch dazu gedient, etwas mehr den Fokus auf diese Gruppe von Menschen zu richten. Bei Autismus handelt es sich aber um eine Erkrankung mit einem sehr breiten Spektrum von wirklich Schwerstbetroffenen frühkindlichen Kindern bis hin zum hochfunktionalen oder auch sehr begabten Menschen. In dieser Breite finden sich einige, die so gut wie keine Unterstützung benötigen und andere, die wirklich ganz intensive Therapie brauchen und bei denen vor allem auch die Familien Unterstützung brauchen.

noe.ORF.at: Wir leben inmitten einer Pandemie, die auch das soziale Leben verändert hat. Dass die Kontakte dadurch reduziert wurden, hat auch sehr viele Kinder betroffen. Wie wirkt sich das aus?

Gobara: Das hat ganz unterschiedliche Auswirkungen. Manche Kinder haben sogar zum Teil aus dieser Zeit profitiert. Manche Familien geben an, durch diese intensive Eltern-Kind-Beziehung hätte sich sozusagen ihre Beziehung zum Kind und ihr Familienleben verbessert. Auf der anderen Seite gibt es aber einen ganz großen Teil, wo wir sehen, dass vor allem die Kindergarten- und Schulschließungen tatsächlich eine Katastrophe waren. Vor allem die Kinder in der Zweisprachigkeit, welche teilweise über ein Jahr lang keinen Input der deutschen Sprache hatten, haben merkbare Rückschritte gemacht.

Das macht uns im Bezug auf den kommenden Schulbeginn große Sorgen, da diese Kinder zwischen fünf und sieben Jahre alt sind und nicht einmal einen Zweiwortsatz auf Deutsch sprechen können. Wir haben auch erlebt, dass die Schließung der Schulen dazu geführt hat, dass viele Kinder unglaubliche Ängste entwickelt haben, bis hin zur Schulverweigerung. Hier sind sehr viele psychosomatische Beschwerden wie beispielsweise Juckreiz oder Bauch- und Kopfschmerzen erkennbar. Schwerere Störungen wie kindliche Angststörungen oder Depressionen sind zusätzlich aufgetreten. Wir hoffen daher, dass zukünftig Kindergarten- und Schulschließungen vermieden werden, weil es für die Kinder in ihrer Entwicklung absolut wichtig ist, hier teilhaben zu können.

Autismuszentrum St. Pölten
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Im Autismuszentrum Sonneschein in St. Pölten finden Betroffene und deren Familien Beratung, Therapie und Unterstützung bei der Bewältigung des oft schweren Alltags

noe.ORF.at: Wenn die Schule im Herbst wieder beginnt, dann ist hier die Gefahr einer Infektion sehr groß. Man muss ja zumindest sichergehen, dass die Kinder getestet sind und negativ sind. Was wäre die Alternative zum Distance Learning beziehungsweise zu geschlossenen Schulen?

Gobara: Ich denke, für die Entwicklung der Kinder gibt es hier keine Alternative. Das heißt, wir müssen alles daran setzen, dass die Kinder nicht nur in die Schulen, sondern auch in die Kindergärten kommen können. Hierbei ist es ganz wichtig, bei den Umgebungs- und Betreuungspersonen anzusetzen, also dass sich die Familien der Kinder und das pädagogische Personal impfen lassen. Das ist ein großes Thema und darüber hinaus gibt es etliche Maßnahmen, die in den Schulen getroffen werden können. Testungen sind hier sehr wichtig, aber auch Lüftungsanlagen etc. Ich hoffe, dass wir so gut durch den Herbst kommen.

noe.ORF.at: Sie haben vor 25 Jahren selbst einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Ihr Kind ist damals an Krebs erkrankt und und mit nur sieben Monaten gestorben. Das hat Ihr Leben und auch Ihren Zugang zu der Medizin komplett verändert.

Gobara: Das ist eine sehr leidvolle und schmerzvolle Erfahrung gewesen, die mich natürlich als Menschen, aber vor allem auch als Ärztin ausmacht, weil eine ganz andere Sensibilität entstanden ist für die Seite der Patienten sowie für deren Familien. Hier zu erkennen, was die Versorgungsnotwendigkeiten sind, außerhalb einer rein medizinisch-therapeutischen Behandlung, macht es aus. Das hat mich gelehrt zu erkennen was Kinder und Eltern bei Erkrankungen brauchen, die nicht heilbar sind und um ihnen helfen zu können, einigermaßen gut durch diese Zeit zu kommen und sich unterstützt zu fühlen. Das war eine große Lernerfahrung aus dieser damals für mich sehr schweren Zeit.