Hans Peter Hutter im Interview
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„Ganz Persönlich“

Hutter: „Politik hat zu viel versprochen“

Umweltmediziner Hans-Peter Hutter geht nicht davon aus, dass die Schulen pandemiebedingt noch einmal geschlossen werden. Sorge bereitet ihm allerdings die „Spaltung der Gesellschaft“, die Politik habe im Bezug auf das Ende der Pandemie „zu viel versprochen“.

Er ist der Mann mit dem Hawaiihemd: Umweltmediziner und Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter mag es bunt, sagt der Experte im Interview mit noe.ORF.at. Geboren wurde er 1963 in Wien, er studierte Landschaftsökologie und Landschaftsgestaltung an der Universität für Bodenkultur sowie Medizin an der Universität Wien. Seit 2015 ist er stellvertretender Leiter der Abteilung für Umwelthygiene und Umweltmedizin am Zentrum für Public Health (ZPH) der Medizinischen Universität Wien – außerdem Skateboarder, Surfer und Klippenspringer.

Im Interview mit Eva Steinkellner-Klein spricht er über den Schulbeginn, die Frustration der Bevölkerung, die Klimakrise, seine Hobbys und warum Veranstaltungen wie das Nova Rock Encore seiner Ansicht nach stattfinden sollen.

noe.orf.at: Am Montag beginnt die Schule wieder. Sind wir denn gut genug vorbereitet oder stehen uns wieder Home-Schooling und Schulschließungen bevor?

Hans-Peter Hutter: Das muss verhindert werden, das ist überhaupt keine Frage. Denn eins ist schon ganz klar: Es gibt bereits sehr viele Beeinträchtigungen nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei den Eltern. Schulschließungen gilt es also zu verhindern und wir wissen auch wie es geht. Nur diese Konzepte muss man jetzt umsetzen. Es wird sich jetzt zeigen, wie viel und was die Schulerhalter gelernt haben. Ich gehe davon aus, dass Schulschließungen ein No-Go sind.

noe.orf.at: Viele haben schon wieder das Gefühl, wir hinken der Pandemie hinterher. Verschlafen wir gerade die 4. Welle und den Moment, sie noch stoppen zu können?

Hutter: Vorsorge heißt, etwas zu tun, bevor etwas eintritt, und das ist schwierig. Ich vergleiche das ganz gern mit einem Zahnarztbesuch. Man putzt schön die Zähne, dann kommt der Arzt oder die Ärztin und sagt, hervorragend, keine Karies. Dann geht man ja nicht nach Hause und sagt, jetzt muss ich nicht mehr Zähneputzen. Denn das hat mir ja gerade die schönen Zähne verschafft.

Das ist schwierig: wenn die Zahlen günstig sind, die Leute dazu zu bringen, an die Maßnahmen zu denken. Da fragen sich dann viele: Wofür mache ich das?

noe.orf.at: Die Zahlen sind schlechter als letztes Jahr im Sommer. Werden wir es diesmal ohne Lockdown schaffen?

Hutter: Es ist immer das Ziel, dass es keinen Lockdown geben muss, dafür können und wissen wir schon zu viel. Wir haben die Impfung, die Maßnahmen, die Tests und vieles mehr, einen ganzen Werkzeugkoffer, der uns schützen kann. Wenn die Bereitschaft der Bevölkerung da ist, mitzumachen, dann schaffen wir das ohne Lockdown.

Das ist die Kernfrage. Denn es gibt eine Frustration in der Gesellschaft. Jetzt haben sie uns gesagt, wenn die Impfung da ist, dann haben wir es geschafft. Da hat die Politik zu viel versprochen. Das frustriert, weil man sich erwartet hat, dass es vorbei ist. Da muss man etwas machen, man muss mit der Bevölkerung mitgehen und diese Frustration bekämpfen.

Hans Peter Hutter im Interview
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Public-Health-Experte Hans-Peter Hutter bereitet die Spaltung der Gesellschaft Sorgen

noe.orf.at: Was wird denn diese Zeit mit uns machen?

Hutter: Ich befürchte, dass wir für andere einschneidende Probleme, von denen wir wissen, vor allem die Klimakrise, keine Luft mehr haben. Nach dem Motto: ‚Jetzt haben sie uns das aufgebürdet, und jetzt dürfen wir nicht mehr mit dem Auto fahren und Fleisch essen‘. Und auch das politische Commitment könnte fehlen, und zwar in Bezug auf einschneidende Maßnahmen, wo es auch um wirtschaftliche Interessen geht. Das ist ein langfristiges Problem, wenn man in die Zukunft schaut.

Was man jetzt sieht, ist, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet. Also diese Spaltung, egal ob es um die Impfung geht oder um andere Maßnahmen, treibt in die Gesellschaft hinein, was Unruhe und Konflikte erzeugt. Mit dem muss man umgehen lernen, das wird sich von heute auf morgen auch nicht verdünnisieren. Das sehe ich auch als großes Problem.

noe.orf.at: Und die Lösung?

Hutter: Solidarität ist für mich ein tragender Begriff. Das war ja vorher nicht unbedingt ein Thema, jetzt über die Epidemie ist es hineingekommen. Wenn es dort oder da Lücken gibt, werden wir Probleme haben. Also ganz ehrlich, ich sehe mich da oft in einer Ich-ich-ich-Gesellschaft. Das Wirtschaftssystem ist auch in etwa so aufgebaut. Dass sich die Gesellschaft dann in diese Richtung entwickelt, ist eine logische Folge. Man muss den Wert von Solidarität viel mehr betonen. Dieser Wert ist nicht unbedingt immer so greifbar, gebe ich zu. Aber man braucht ein Bewusstsein dafür.

noe.orf.at: Wie groß ist denn angesichts der Klimakrise und dem Umstand, dass zu wenig getan wird, ihre Frustration?

Hutter: Die Frustration hält sich in Grenzen. Da muss man sich zurücknehmen. Ich habe eine hohe Frustrationsschwelle. Wir haben jetzt noch zehn Jahren Zeit, um die Folgen für die nächsten Generation abzuschwächen. Es geht längst nicht mehr darum, dass der Klimawandel nicht kommt – der ist schon da – sondern darum, die Temperaturkurve abzuschwächen. Wir wissen es, wir können es. Ganz ehrlich, da bin ich optimistisch. Es wäre schon traurig, wenn wir mit dem Wissen, das wir jetzt haben, nichts anfangen.

noe.orf.at: Apropos hohe Frustrationsschwelle. Die brauchen Sie auch bei ihren Hobbys. Sie sind Skateboarder, Klippenspringer und Surfer. Da braucht man Balance, das ist in Ihrem Beruf auch gefragt, und man braucht viel Geduld.

Hutter: Wenn Sie die hohe Frustrationsschwelle ansprechen, ich bin halt nicht talentiert, ich bin so ein Mittelding. Ich bin nicht komplett unfähig, aber ich kenne Talente, da schaut das ganz anders aus. Das ist etwas, was ich mir schlichtweg akribisch anlernt habe. Mit einer Freude. Ich wollte das einfach können, das macht mir so viel Spaß.

Hans Peter Hutter beim Skaten
Bubu Dujmic Photography
Privat hat der Wissenschafter eine Leidenschaft für Skaten, Klippenspringen und Surfen

noe.orf.at: Ihr Markenzeichen ist das Hawaii-Hemd. Wenn man das sieht, weiß man, das sind Sie. Warum Hawaii-Hemd?

Hutter: Als die Pandemie gekommen ist, war mir klar, mit dem Surfen wird es lange nichts. Naja, damit man irgendwas vom Surfen hat, zieht man die Hemden an. Der Alltag ist damit ein bisschen bunter. Das Hemd erinnert mich ans Wellenreiten, das war’s eigentlich.

noe.orf.at: Wie viele haben Sie im Schrank hängen?

Hutter: Sicher zwei Dutzend.

noe.orf.at: Sie haben ein Doppelstudium absolviert, nämlich Landschaftsökologie und Landschaftsgestaltung und auch Medizin. Ihre Titel sind mittlerweile länger als ihr Name (OA Assoc. Prof. Priv.-Doz. Dipl.-Ing. Dr. med. Hans-Peter Hutter, Anm.) – ist Ihnen das wichtig?

Hutter: Als gelernter Österreicher sollte es mir das. Mir ist das wurscht. Im amerikanischen Raum, wo man mit Kollegen zusammenkommt, gibt es das alles nicht. Da heißt man Hans-Peter, da kennt man diese Titel ja sowieso nicht. Ich weiß, dass sich das am Friedhof einige auf den Grabstein schreiben lassen, bei mir wird es nicht stehen.

noe.orf.at: Wie kann man als Gesellschaft lernen, mit einem Virus zu leben und dabei möglichst wenig Schaden zu nehmen?

Hutter: Wir müssen es in Zukunft schaffen, so ein Problem nicht noch einmal zu bekommen. Da ist der Wildtierhandel ein Problem, da ist der Raubbau an der Ökologie ein Problem. Das ist der wichtigste Punkt, weil sowas wollen wir alle nicht mehr. Dazwischen, also zwischen den Pandemien wird es auch wieder normales Leben geben. Es wird besser werden. Es gibt ja jetzt zum Beispiel eine Impfung. Dazu kommt, dass dutzende Wissenschaftler an der Entwicklung eines Medikaments arbeiten.

Und im Wesentlichen haben wir ja schon gelernt, mit der Pandemie zu leben. Früher war der Mund-Nasenschutz unbekannt, außer man hat im Krankenhaus gearbeitet. Er ist ja nicht so schwer, was müssen wir denn unbedingt können: ein Meter Abstand halten, das ist kinderleicht, Händewaschen, gut, das hätte man ja auch schon vorher machen müssen, und da und dort lüften. Also viel ist es nicht. Außer natürlich impfen gehen. That´s it. Das heißt eigentlich ‚mit der Pandemie leben‘.

noe.orf.at: Und wie schaut es aus mit Veranstaltungen? Sie waren ja maßgeblich am Konzept für das Musikfestival Nova Rock Encore beteiligt. Dieses Festival findet am 11. September in Wr. Neustadt statt. Aber können wir uns solche Events eigentlich leisten?

Hutter: Aus meiner Sicht muss man zwei Äste bespielen: das erste ist: ja, die Epidemie muss eingedämmt werden. Aber es gibt auch eine andere Seite. Ich möchte Folgendes nur stellvertretend sagen: Kinder, Jugendpsychiatrie, Depressionen, Arbeitslosigkeit, Existenzängste, das alles muss man möglichst geringhalten. Es ist ein Gleichgewicht. Wenn man jetzt der Jugend, die lange nicht viel machen durfte, sagt, jetzt seid ihr dran, jetzt dürft ihr feiern, dann ist es wichtig, dass solche Events auch stattfinden. Mit einem guten Konzept, in abgespeckter Form, mit allen Überlegungen und Modellberechnungen, die notwendig sind.

Wenn diese Pandemie noch länger dauert, dann können wir das Leben nicht auf ein Minimum herunterfahren. Wichtig ist, dass alle mitmachen und davon gehe ich jetzt einmal aus. Es geht um die Ernsthaftigkeit, dass man soziales Leben wiederbelebt oder aufrechterhält.