Smartphone-Schatten
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„Bewusst Gesund“

Soziale Medien: Fluch und Segen zugleich

Die soziale Einbettung entscheidet wesentlich, wie Menschen durch Krisen kommen. Durch die Pandemie bekamen digitale Netzwerke Zustrom von Menschen, die zuvor noch keine Erfahrung mit sozialen Medien hatten. Für manche sind sie Fluch, für andere Segen.

Soziale Medien spielen heute eine wesentliche Rolle für die psychische Gesundheit. Speziell unter Jungen sind sie allgegenwärtig, ein wesentlicher Teil von Beziehungsarbeit findet mittlerweile digital statt – von der Anbahnung von Kontakten über deren Festigung bis zu Abbrüchen. Wer mit anderen Personen in Verbindung stehen will, muss neben dem persönlichen Kontakt zunehmend auch digital greifbar sein.

Welche Vorteile und Möglichkeiten in digitaler Kommunikation stecken, erlebten während der Pandemie auch zahlreiche Menschen, denen die Nutzung sozialer Netzwerke aus eigener Erfahrung noch fremd war. Durch Lockdowns, Isolation, Quarantäne und die Reduzierung physischer Kontakte wurden sie von einem Tag auf den anderen zum größten Fenster nach außen – auch für zahlreiche ältere Menschen.

Ausgegrenzte Personen oft nur online erreichbar

Bewusst Gesund

Unter dem Motto „Jetzt die Psyche stärken“ widmet der ORF vom 25. September bis zum 2. Oktober einen Schwerpunkt. Dazu wird im TV, Radio und online auf Belastungen durch die Pandemie sowie auf mögliche Auswege berichtet.

Mit Interesse beobachtete das auch Johanna Grüblbauer, die Studiengangsleiterin für Medienmanagement an der Fachhochschule St. Pölten. Dort hatte man bereits vor der Pandemie Pilotprojekte und Versuche gestartet, um Ältere in den digitalen Raum zu locken. Dort würden zahlreiche Vorteile warten, etwa um neue Kontakte zu knüpfen oder Einsamkeit zu lindern, beispielsweise mit Online-Kartenspielrunden.

Grüblbauer zufolge seien digitale Kommunikationsmittel speziell während der Lockdowns „ein absoluter Vorteil“ gewesen, ebenso wie „das generationenübergreifende Denken, dass man diese Technologien von Jung bis Alt verwendet, um auch Anschluss für diejenigen herzustellen, die diese Technologie zuvor noch nicht genutzt haben“.

Sobald der Zugang zu sozialen Medien hergestellt ist, liegt ein weiterer enormer Vorteil in deren einfacheren Verfügbarkeit. Am Smartphone ist es jederzeit und von jedem Ort aus möglich, mit anderen in Verbindung zu treten und Fotos oder Videos zu teilen. Zudem fällt es digital auch deutlich leichter, Hilfe anzunehmen. Diese Erfahrung machte man auch in zahlreichen sozialen Einrichtungen, unter anderem in der Suchtberatung. Kurt Fellöcker, der Studiengangsleiter für Suchtberatung an der Fachhochschule St. Pölten: „Über die digitalen Medien ist es möglich, zu Menschen zu gelangen, die sonst kaum von sich aus in Kontakt treten würden. Das haben wir zum Beispiel in der Jugendintensivbetreuung gesehen.“

Digitale Welt schuf neue Ängste

Digitale Medien – ob Online-Computerspiele, soziale Medien oder Streamingplattformen – sind vor allem wegen ihrer problemlosen Verfügbarkeit auch geeignet, um psychische Abhängigkeiten zu erzeugen. Davon betroffen können alle Altersgruppen von Kindern bis Älteren sein.

Mittlerweile stark verbreitet sind jedenfalls Ängste, die im Zusammenhang mit der ständigen Verfügbarkeit von neuen Inhalten und Interaktion sind. Ein Beispiel dafür ist die in medienpädagogischen und psychologischen Kreisen bekannte Angst „FOMO“ („Fear of missing out“, übersetzt also „Sorge, etwas zu verpassen“; Anm.). Das Phänomen beschreibt eine zwanghafte Angst, entweder eine soziale Interaktion, eine besondere Erfahrung oder ein anderes befriedigendes Ereignis zu versäumen und nicht mehr auf dem Laufenden zu sein.

Auge mit Reflexion eines Smartphones
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Wenn Stunden ohne Onlinekonsum zur unerträglichen Vorstellung werden, könnte bereits eine Abhängigkeit bestehen

Integrierte psychologische Tricks erzeugen Abhängigkeit

Von Phänomenen wie diesen und hochaktiven Nutzerinnen und Nutzern, die von frühmorgens nach dem Aufstehen bis spätabends vor dem Schlafengehen online möglichst aktiv sind, profitieren die dahinterstehenden Unternehmen. Die Anbieter sozialer Medien verfolgen das Ziel, ihre Mitglieder zu möglichst viel Online-Interaktion zu motivieren. Die Währung dabei sind Klicks.

Dazu arbeiten die Firmen mit psychologischen Tricks „und haben verschiedene Möglichkeiten eingebaut, wie man dort positive Bestätigung bekommt, die ähnlich auf Menschen wirkt wie manche Drogen oder andere Substanzen. Das löst in den Betroffenen dann natürlich ein Befriedigungsgefühl bzw. ein Belohnungsgefühl aus, nach dem man infolge immer wieder sucht“, so der Sucht- und Präventionsexperte Fellöcker.

Johanna Grüblbauer zufolge machen Belohnungsmechanismen jedoch nur einen Teil des psychischen Drucks aus, den soziale Medien aufzubauen fähig sind. Kein Medium war je schneller und unmittelbarer als das Internet, insofern wird auch die zeitliche Unmittelbarkeit ausgenützt, um Nutzerinnen und Nutzer aktiv online zu halten. „Ein Beispiel, das jeder kennt, ist WhatsApp. Die Häkchen, die uns anzeigen, ob unsere Nachrichten schon angekommen sind und bereits gelesen wurden, bauen einen gewissen Druck auf, dass wir innerhalb einer gewissen Zeitspanne antworten.“

Onlinesucht: Wenn Vorteile zum Nachteil werden

Soziale Medien können also beides: Einerseits erwarten Nutzerinnen und Nutzer in den digitalen Räumen Erlebnisse und Eindrücke, die positive Gefühle vermitteln und Kontakt zu anderen ermöglichen, andererseits können sie auch psychischen Leidensdruck aufbauen bzw. verstärken.

Nach Ansicht des Suchtexperten Fellöcker können soziale Medien in seltenen Fällen sogar suchtähnliches Verhalten provozieren. „Es besteht die Gefahr, dass man in die Nutzung ‚hineinkippt‘ und dabei vergisst, andere realere, analoge Formen der Kommunikation zu verwenden, weil es zum Teil leichter ist, die digitale Bindung zu halten als persönliche Kontakte.“ In besonders schweren Fällen könne die Abhängigkeit so zwanghaft werden, dass Entwicklungsverzögerungen auftreten, „was sich daran zeigt, dass die Persönlichkeitsentwicklung ab einem gewissen Punkt stoppt.“

Smartphone und Zigarette in Händen
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Dass Jugendliche ihr Smartphone immer in Reichweite haben und ihre sozialen Kanäle regelmäßig auf Neuigkeiten überprüfen, liefert keinen Grund zur Sorge. Solange digitale Kontakte direkte persönliche Beziehungen ergänzen, überwiegen ihre Vorteile – auch abseits von Lockdowns.

Forderung nach mehr Medienkompetenz

Vorbeugen kann man dem laut Experten mit ausreichend persönlichen Kontakten. Bei guter sozialer Einbettung überwiegen in der digitalen Kommunikation die positiven Effekte gegenüber den Schattenseiten. Allerdings gilt es speziell im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die Schattenseiten nicht zu negieren und genau hinzusehen. Fellöcker zufolge sollten dann die Alarmglocken schrillen, wenn man sich realer sozialer Interaktion immer mehr entzieht und sie durch digitale Kommunikation ersetzt. „Wenn man ein Treffen mit Freunden absagt, weil einen die Vorstellung stresst, ein paar Stunden nicht online zu sein und die realen Freundschaften darunter leiden, gilt es auf jeden Fall genauer hinzusehen.“

Soziale Medien an sich seien aber weder gut noch böse. Ob ihre positiven oder negativen Eigenschaften überwiegen, entscheidet das Nutzungsverhalten und damit jeder Mensch für sich. Aus diesem Grund pochen sowohl die Medienfachfrau als auch der Suchtexperte auf Prävention und Aufklärung – beginnend bereits bei den Jüngsten. Johanna Grüblbauer hält einen gesunden Zugang zum digitalen Raum samt digitaler Medienkompetenz heute mittlerweile „zu den wesentlichsten Anforderung“, die Kinder und Jugendliche für ihre Zukunft erwerben müssen. „Daher gehören die wesentliche Themen aus dem Bereich digitaler Technologien in meinen Augen auch fix in den Stundenplan“.