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„Bewusst Gesund“

Bewegung: Unterschätztes Antidepressivum

Mit der steigenden Zahl psychisch Erkrankter nimmt auch der Konsum von Psychopharmaka zu. Um den Medikamenteneinsatz zu reduzieren, setzen psychiatrische Einrichtungen zunehmend auf Bewegung und erzielen damit etwa bei Depressionen ähnliche Effekte.

Über körperliche Beschwerden zu sprechen, fällt vielen Betroffenen deutlich leichter, als psychische Erkrankungen zu thematisieren. Dabei sind sie längst keine Ausnahme. Laut einem OECD-Bericht aus dem Jahr 2018, ist in Österreich jeder sechste Mensch von psychischen Problemen betroffen. Damit lag Österreich (17,7 Prozent) knapp über dem europäischen Durchschnitt (17,3 Prozent). Durch die Folgen der Pandemie stieg die Zahl der Menschen mit psychischen Problemen seither jedoch weiter an, Depressionen hätten sich teils sogar verdoppelt – mehr dazu in „Psychische Probleme in Pandemie stark gewachsen“ (news.ORF.at; 8.6.2021).

Dem Motto „Jetzt die Psyche stärken“ widmet der ORF von 25. September bis 2. Oktober einen Schwerpunkt. Dazu wird in TV, Radio und online über Belastungen durch die Pandemie sowie über mögliche Auswege berichtet.

Erkrankungen wie Depressionen nicht ernst zu nehmen, birgt nicht nur für Betroffene Risiken. Auch der volkswirtschaftliche Schaden ist beträchtlich. Der OECD-Bericht beziffert die in Österreich dadurch anfallenden Kosten mit etwa elf Milliarden Euro bzw. vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Jährlich erhalten mehr als 800.000 Österreicherinnen und Österreicher Psychopharmaka verschrieben, ein Großteil davon sind Antidepressiva.

Bewegung kann helfen, Psychopharmaka einzusparen

Deutlich belegt in der Wissenschaft, aber noch lange nicht ausreichend bekannt, ist die antidepressive Wirkung von Bewegung. Davon überzeugt ist auch Psychiater Fritz Riffer, der ärztliche Direktor des Psychosomatischen Zentrums Waldviertel. „Es gibt eine Reihe von Arbeiten, die zeigen, dass Menschen mit depressiven Störungen durch regelmäßige moderate Bewegung gleich gute Ergebnisse erzielen wie durch die Behandlung mit Psychopharmaka.“

Riffer zufolge heißt das nicht, „dass jeder seine Psychopharmaka absetzen soll“, allerdings ließen sich durch regelmäßige Bewegung im Alltag Psychopharmaka einsparen bzw. könne man in der Behandlung von leichteren psychischen Störungen „erst zuwarten bevor man mit einer medikamentösen Behandlung beginnt und sich zunächst auf die Gesprächstherapie und Bewegung konzentrieren“, so der Psychiater gegenüber noe.ORF.at.

Der Grund für die Wirkung von Bewegung ist laut Riffer im Hormonhaushalt zu finden: „Viele Psychopharmaka wirken über Serotonin (ein Glückshormon, Anm.) im Gehirn und wir wissen, dass auch regelmäßige Bewegung den Serotoninhaushalt positiv beeinflusst. Das heißt, Bewegung und Psychopharmaka vereint das gleiche Ergebnis, indem Botenstoffe im Gehirn verändert werden, die zum Wohlfühlen und zu guter Stimmung beitragen.“

Zudem habe Bewegung einen großen Einfluss auf das vegetative Nervensystem, also auf all jene Prozesse im Körper, die man willentlich nicht verändern kann wie beispielsweise Atmung, Herzschlag oder Verdauung. „Das vegetative Nervensystem regelt auch das Zusammenspiel von Körper und Psyche. Regelmäßige Bewegung, entspannt das vegetative Nervensystem und trägt damit wesentlich zur Gesundheit bei“, so der Psychiater.

Gymnastik am Ball
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Sowohl Kraft- als auch Ausdauertraining sind dazu geeignet, gegen psychische Probleme zu helfen

Positive Nebeneffekte auch für körperliche Gesundheit

Im Psychosomatischen Zentrum Waldviertel ist die Bewegungstherapie fester Bestandteil der Behandlung: ob Physiotherapie, Spaziergänge in Gruppen oder Ballspiele. Betroffene sollen jene Bewegungsformen für sich finden, die ihnen angenehm erscheinen und sich nach dem Aufenthalt im Zentrum auch in deren Alltag integrieren lassen.

Dies habe der Klinik zufolge gleich mehrere gesundheitlich positive Folgen, denn wer psychische Probleme hat, wird auch anfälliger für körperliche Beschwerden. „Menschen mit psychischen Störungen, etwa mit Depressionen, haben ein deutlich erhöhtes Risiko für andere Erkrankungen wie Diabetes, Stoffwechselerkrankungen, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, erklärt Riffer. Insofern zahle sich Bewegung doppelt aus: sowohl körperlich als auch psychisch. Riffer bezeichnet Bewegung als „nebenwirkungsfreie Medikamentenalternative“. Bewegung sei etwas, „das jeder zu fast jeder Zeit einfach machen kann und das noch dazu fast nichts kostet, also sollten wir es alle regelmäßig nützen.“

Es muss kein Sport sein, moderate Bewegung reicht

Um Effekte zu erzielen, braucht es jedoch keine sportlichen Spitzenleistungen. Jede Aktivität soll sich für die Erkrankten auch gut anfühlen. Das Stichwort im Psychosomatischen Zentrum Waldviertel lautet „moderate Bewegung“. Physiotherapeutin Bettina Bannert zufolge bedeutet das, „dass man drei bis fünf Mal pro Woche mindestens eine halbe Stunde Bewegung macht, bei der man nebenher noch sprechen kann und eigentlich keine Anstrengung verspürt.“ Dazu reiche schon ein Spaziergang – am besten in der Natur. Möglichkeiten für Bewegung gibt es ihr zufolge für jede Altersgruppe.

Physiotherapie
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Zu Beginn der Therapie gilt es oft, den positiven Zugang zu Bewegung wiederzuentdecken

Die Bewegung soll laut Ansicht von Physiotherapeutin Bannert keinesfalls schmerzhaft oder überfordernd sein. „Viele Menschen verlieren im Lauf ihres Lebens einen positiven Zugang zu Bewegung – oft sogar schon in der Schule.“ Daher gelte es zu Beginn der Therapie bei vielen, den positiven Zugang wiederzuentdecken, „am besten mit Bewegung, die man früher gerne gemocht hat, egal ob Tanzen, Ballspiele, Gymnastik, Seilspringen oder Radfahren“.

Um mit Bewegung wieder anzufangen, ist es „nie zu spät – für jedes Alter und jede Vorerkrankungsgeschichte lässt sich etwas Passendes finden. Wichtig ist nur, den ersten Schritt zu setzen und wieder aktiv zu werden“, so Bannert. Bei ihren Patientinnen und Patienten gelinge es meist binnen zwei Wochen, die angenehmen Seiten von Bewegung wiederzuentdecken „und das verändert auch mental viel. Wenn ich über Bewegung, die ich mag und die mir gut tut, wieder in eine Aktivität finde, hilft mir das auch bei der Bewältigung meiner Depression oder Angststörung.“