Anna Kiesenhofer
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„GANZ PERSÖNLICH“

Anna Kiesenhofer: „Familie ist fester Anker“

Sie war die Sensation bei den olympischen Spielen in Tokio: Anna Kiesenhofer, die im Alleingang die Goldmedaille im Frauen-Straßenradrennen geholt hat. Die Spitzensportlerin erzählt, welchen Stellenwert für sie die Mathematik hat und wie wichtig Familie ist.

Anna Kiesenhofer, 1991 in Kirchdorf an der Krems geboren, wuchs in Niederkreutzstetten im Bezirk Mistelbach auf. Ihre ersten sportlichen Erfolge feierte sie im Triathlon und Duathlon. Von 2019 bis 2021 war sie Staatsmeisterin im Einzelzeitfahren der Frauen. Die studierte Mathematikerin ist Spezialistin für partielle Differentialgleichungen, sie lehrt diese auch in Lausanne in der Schweiz. Im Interview mit Robert Friess erinnert sie sich noch einmal an das Rennen, das ihr Leben verändert hat.

noe.ORF.at: Schön, dass wir bei Ihnen in Niederkreuzstetten zu Hause zu Besuch sein dürfen. Sie sind ja eigentlich Oberösterreicherin, aber hier in Niederkreuzstetten aufgewachsen.

Anna Kiesenhofer: Ja genau, also ich bin schon als kleines Kind hierhergekommen – habe hier die Volksschule gemacht und meine Kindheit und Jugend verbracht.

noe.ORF.at: Wenn man sich die Landschaft so anschaut: Hat hier Ihre Leidenschaft für den Sport begonnen?

Kiesenhofer: Jein – es hat eigentlich meine Leidenschaft begonnen, draußen zu sein. Also einfach zu spielen. Es ging da nicht um Wettkampf oder um Sport – ich hätte das jetzt nicht einmal als Sport bezeichnet. Aber wir haben halt irrsinnig viel gespielt draußen im Garten, im Bach, kleine Schlachten mit den Nachbarschaftskindern. Wir waren immer draußen und sind ohne Fernseher aufgewachsen, ohne Nintendo.

Anna Kiesenhofer und Robert Friess
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Kiesenhofer im Gespräch mit Robert Friess

noe.ORF.at: Aber dennoch hat Sie irgendwann die Leidenschaft gepackt und dann kam der Spitzensport.

Kiesenhofer: Da war ich schon 20 Jahre alt und habe in Wien studiert, meinen Bachelor in Mathematik gemacht. Ich war schon nahe am Abschluss und dann hab ich mit Laufen und Triathlon angefangen. Da ich immer von Natur aus ehrgeizig war, in der Schule wollte ich immer die Beste sein und an der Uni auch, war das dann natürlich auch im Sport so. Als ich gesehen habe, da gibt es Wettkämpfe, wollte ich da auch die Beste sein.

noe.ORF.at: Kommen wir zu diesem 25. Juli, der Ihr Leben verändert hat – Tokio, die Olympischen Spiele. Wie haben Sie selbst Ihren Sieg miterlebt?

Kiesenhofer: Es war eigentlich richtig schön, weil alles nach Plan verlief. Ich dachte schon im Vorfeld, dass ich bei Kilometer null versuchen werde zu attackieren. Und es hat dann eigentlich alles in meine Karten gespielt. Ich hatte eigentlich eine ganz gute Ausreißergruppe mit mir. Wir haben gut zusammengearbeitet und das ist natürlich von Vorteil, wenn man nicht alleine ganz vorne ist. Am Ende hatte ich dann das Glück, einfach das machen zu können, was ich am besten kann, nämlich alleine zu fahren. Die letzten 40 Kilometer einfach alleine Vollgas fahren vor den ganzen Fernsehern der Welt. Das war ein unglaubliches Gefühl und hat mir auch unglaublich viel Stärke gegeben, um wirklich alles rauszuholen.

„Es war absolut am Limit“

noe.ORF.at: Wie war das Gefühl, als Sie über die Ziellinie gefahren sind? Da gibt’s ja diese Aufnahmen, dieses wahnsinnige Glücksgefühl, es war aber auch Schmerz dabei.

Kiesenhofer: Zuerst ist man vor allem froh, dass der Schmerz vorbei ist, weil es eigentlich absolut extrem war. Es war absolut am Limit. Ich wusste eigentlich nicht, ob mein Körper es noch aushält. Ich dachte, ich falle vom Rad, weil es wirklich schwierig war, die Muskeln überhaupt noch zur Kontraktion zu bewegen. Zuerst war ich einmal froh, dass der Schmerz vorbei war. Gleichzeitig habe ich hyperventiliert, was dann komisch klingt im Fernsehen. Es war kein Weinen, sondern es war ein Hyperventilieren, weil ich keine Luft mehr bekam. Und dann war irrsinnig große Freude, weil so viel abgefallen ist – die Arbeit der letzten Jahre.

Anna Kiesenhofer wird Sportlerind es Jahres
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Anna Kiesenhofer ist die Sportlerin des Jahres 2021

Aufmerksamkeit als Herausforderung

noe.ORF.at: Der 25. Juli hat Ihr Leben verändert. Sie sind Österreicherin des Jahres, Sportlerin des Jahres österreichweit und auch in Niederösterreich. Was hat sich für Sie alles verändert?

Kiesenhofer: Für mich ist das ungewohnt. Ich bin auch nicht die Person, die das Rampenlicht sucht. Ich komme damit klar und ich sehe das als Challenge. So wie im Sport: Da ist auch nicht immer alles lustig. Vieles ist eine Herausforderung und für mich ist das jetzt die neue Herausforderung.

noe.ORF.at: Spielt die Mathematik, die Berechnung, auch bei Ihren sportlichen Aktivitäten eine Rolle?

Kiesenhofer: Die komplexe Mathematik nicht direkt, also ich brauch keine partiellen Differenzialgleichungen für meinen Trainingsplan. Mir hilft aber die analytische Denkweise. Als Mathematikerin lernt man, kritisch zu denken. Wir wollen ja immer für ein Theorem einen Beweis haben. Und ich gehe meine sportlichen Ziele auch so an. Ich überlege, was will ich und analysiere, was brauche ich, um da hin zu kommen.

noe.ORF.at: Seit einigen Monaten gibt es sehr viel Trubel um Sie, um Ihre Person. Wie wichtig ist Ihnen da die Familie, wie wichtig sind Ihnen Freunde?

Kiesenhofer: Das ist mein fester Anker. Es ist das, was bleibt. Alles darumherum ist sehr variabel. Jetzt werde ich umjubelt, jetzt ist so ein Hype da. Aber ich weiß auch, dass die Leute schnell vergessen. Aber meine Familie, mein enger Kreis, das ist mein fester Anker.