Fassade des Landestheaters Niederösterreich
Alexi Pelekanos
Alexi Pelekanos
Kultur

„Erinnerungsbüro“ auf den Spuren der Geschichte

Theater, Gespräche, Videos und Stadtspaziergänge zur Geschichte von St. Pölten bietet die Veranstaltungsreihe „Erinnerungsbüro“ des Landestheaters Niederösterreich. Es geht dabei um die Aufarbeitung der Vergangenheit aus verschiedenen Blickwinkeln.

„Das Ziel ist die Einbindung der Stadtgesellschaft in soziokulturelle Prozesse mit den Themen, die die Menschen in und um St. Pölten beschäftigen“, erläuterte Marie Rötzer, künstlerische Leiterin des Landestheaters Niederösterreich, bei der Programmpräsentation am Dienstagabend. In Zusammenarbeit mit dem Institut für jüdische Geschichte Österreichs, dem Museum Niederösterreich, dem Stadtarchiv St. Pölten dem Verein MERKwürdig in Melk und Schulen entstehen Projekte außerhalb des Theaterraums, so Julia Engelmayer, leitende Dramaturgin des Landestheaters und Koordinatorin des „Erinnerungsbüros“.

Stadtspaziergänge, um die Geschichte kennenzulernen

Schon im Herbst 2020 starteten die Stadtspaziergänge zum jüdischen Leben in St. Pölten mit Julia Engelmayer und der Schauspielerin Bettina Kerl. Dabei kommt u.a. die Biografie von Rosa Lustig (später Kubin) zur Sprache, die als erstes Mädchen in St. Pölten maturierte und nach der Emigration in die USA als Chemikerin Karriere machte. „Auch wenn sich die Jüdinnen und Juden St. Pöltens äußerlich, etwa in der Kleidung und Sprache, nicht von der übrigen Bevölkerung unterschieden, brachten sie doch selbstbewusst ihre Religion und die damit zusammenhängende Kultur ein“, so Martha Keil, die Direktorin des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs, das seinen Sitz in der ehemaligen Synagoge St. Pölten hat.

Präsentation des Programms des Erinnerungsbüros des Landestheaters Niederösterreich
Alexi Pelekanos
Das Programm des „Erinnerungsbüros“ wurde in der Theaterwerkstatt in St. Pölten präsentiert

„Was der Stadtspaziergang mir bedeutet und warum ich ihn so gerne mache: Gemeinsam mit anderen durch die Stadt zu spazieren und zu er-innern, Wissen zu teilen und neues Wissen von den Mit-Spazierenden zu bekommen, die Stimmen von Menschen hörbar zu machen, die selbst nicht mehr sprechen können“, erklärt Bettina Kerl, die nach Stationen in Berlin, Hamburg, Wien und Düsseldorf seit 2016 Ensemblemitglied am Landestheater Niederösterreich ist. Die nächsten Termine für die Stadtspaziergänge werden am 26. März sowie am 7. und 14. Mai 2022 angeboten.

Das Ende der Zeitzeugenschaft

Unter dem Titel „Die lange Tafel“ wird im Museum Niederösterreich zum Tischgespräch anlässlich der Ausstellung „Wider die Macht. Die Kunstsammlung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands“ geladen. Erster Termin ist der 24. März 2022, weitere Termine sind in Planung.

Christian Rapp, Wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich: „Wir erleben das Ende der Zeitzeugenschaft. Es gibt immer weniger Menschen, die die Ereignisse der Zeit des Nationalsozialismus aus eigener Erfahrung berichten können. Umso wichtiger wird es, neue Formen zu finden, die Erinnerung lebendig zu halten und einer jungen Generation als gegenwärtig vermitteln zu können. Da hat die Zusammenarbeit mit dem Theater für mich ein ganz besonderes Potenzial.“

„Die lebendige Bibliothek“ mit Erinnerungen

„Die lebendige Bibliothek“, ein partizipatives Schulprojekt zum Thema Erinnerungskultur, wird von der Theaterpädagogin Julia Perschon betreut. Niederösterreichische Schulklassen setzen sich mit autobiografischen Texten schon verstorbener Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auseinander und produzieren dazu kurze Filme.

Steine der Erinnerung in der Rathausgasse 1, St. Pölten.
Carina Bauer
In der Landeshauptstadt gibt es 39 „Steine der Erinnerung“ für 79 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bis zum „Anschluss“ in St. Pölten gelebt haben

Drei Zeitzeugen, die in Verbindung mit der Stadt Krems stehen, wurden durch die Videos der Schülerinnen und Schüler der Tourismusschulen HLF Krems wieder ins Gedächtnis gerufen und in die Gegenwart geholt, zum Beispiel Therese Mahrer (1912–1989). Sie war die erste Frau im Kremser Stadtsenat (1945 bis 1949), erstritt die Kaserne als Schulraum von der sowjetischen Besatzungsmacht und gründete die heutige HLM HLW Krems. Sie war Stadträtin für Schul- und Kulturwesen, Gemeinderätin und Bibliothekarin.

„Ich finde, dass es in einer so schnelllebigen Zeit wie heute besonders wichtig ist, die Erinnerung aufrecht zu erhalten und die Vergangenheit nicht aus den Augen zu verlieren. Am meisten hat es uns bedeutet, dass wir die Geschichten der Zeitzeugen erzählen konnten und diese so nicht in Vergessenheit geraten“, sagt Julia Perschon, Leitung der Theatervermittlung am Landestheater Niederösterreich.

„Nathan 575“ erinnert an 575 ermordete jüdische Mitbürger

Schließlich bringen Ludwig Wüst und Maja Savic in der ehemaligen Synagoge von St. Pölten die Produktion „Nathan 575“ heraus: mit zentralen Passagen aus Lessings „Nathan der Weise“, konfrontiert mit Berichten geflüchteter Jüdinnen und Juden aus Niederösterreich. Dabei sind 575 getötete bzw. verschollene jüdische Mitbürger aus St. Pölten namentlich präsent.

Synagoge St. Pölten
ORF / Rohrhofer
Am 22. Mai 2022 wird in der ehemaligen Synagoge in St. Pölten „Nathan 575“ gezeigt: „Gibt es den utopischen Raum der Versöhnung, den Lessing einfordert, angesichts einer gigantischen Vernichtungsmaschine?“

„Während bei Lessing Gefühl und Religiosität in einen Konflikt geraten und in der Ring-Parabel ihre Versöhnung finden, bezeugen die biografischen Originaltexte den Sieg der Ideologie über jede Form von Menschlichkeit und Mitgefühl in den Reihen des Vernichtungsregimes“, heißt es auf der „Erinnerungsbüro“-Website.

Premiere ist am 27. Mai 2022. Ludwig Wüst und Maja Savic stellen an diesem Abend die Frage: „Gibt es den utopischen Raum der Versöhnung, den Lessing einfordert, angesichts einer gigantischen Vernichtungsmaschine?“ Ein Gastspiel im ehemaligen KZ-Außenlager Melk ist in Planung.