Überwuchertes Lager
Karin Böhm, Donau-Universität Krems
Karin Böhm, Donau-Universität Krems
Wissenschaft

Suche nach vergessenen NS-Lagern

Viele Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs sind nach wie vor nicht aufgearbeitet. Über viele NS-Arbeitslager in Niederösterreich mit Tausenden Gefangenen und Zwangsarbeitern gibt es etwa fast keine Aufzeichnungen. Ein Forschungsprojekt will das nun ändern.

In Gneixendorf (Bezirk Krems) ist von den primitiven Baracken, in denen einmal 66.000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter hausten, nichts mehr zu erkennen. Es war das größte derartige Lager Österreichs und ist heute fast völlig verschwunden: Über die Fläche ist Gras gewachsen, Sträucher und Bäume lassen keine Rückschlüsse auf die Vergangenheit zu.

Die Arbeit der Häftlinge sei aber sichtbar, sagt Edith Blaschitz, Bildungswissenschaftlerin an der Donau-Universität Krems und Mitglied des Forschungsteams: „Wenige Menschen in Krems wissen, dass viele Gebäude, die es heute dort gibt, in dieser Zeit – ab 1939, 1940 – von Kriegsgefangenen und von Zwangsarbeitern aus dem Osten Europas gebaut worden sind, die in Gneixendorf untergebracht waren. Unter anderem der Hafen ist damals völlig neu gebaut worden.“

Verbindungen in die Gegenwart

Das Arbeitslager und die Gefangenen sind in der kollektiven Erinnerung fast ausgelöscht, aber Geschichten, Dokumente und auch Freundschaften zeugen noch von damals: Ein belgischer Kriegsgefangener etwa war auf dem Hof der Winzerfamilie Graf-Faltl in Stratzing (Bezirk Krems) eingesetzt. Der Zwangsarbeiter war so etwas wie ein Familienmitglied. Durch Zufall, aufgrund von alten Fotos aus dieser Zeit, fanden die beiden Familien aus Belgien und Österreich Jahrzehnte später wieder zusammen.

Suche nach vergessenen NS-Lagern

Viele Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs sind nach wie vor nicht aufgearbeitet. Über viele Arbeitslager in Niederösterreich mit Tausenden Gefangenen und Zwangsarbeitern gibt es etwa fast keine Aufzeichnungen. Ein Forschungsprojekt will das nun ändern.

„Es war mehr eine Fügung als Zufall“, beschreibt Maria Graf diese Begegnung. „Obwohl der damalige Kriegsgefangene schon lange verstorben ist, haben wir heute mit seiner Familie engen Kontakt. Als der Enkel des damaligen Gefangenen geheiratet hat, war ein Cousin von mir Trauzeuge. Ihr Kind haben sie nach unserer Tochter Romana benannt, wir haben sehr innige Verbindungen.“

Bisher unbekannte Barackenlager

Solche Beispiele gebe es im Verborgenen noch viele, vermutet Martha Keil. Die Direktorin des Institutes für jüdische Geschichte Österreichs, das seinen Sitz in der Synagoge in St. Pölten hat, rief das Forschungsprojekt „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreichs“ ins Leben. Es sollen also nicht die bekannten befestigten Außenlager von Konzentrationslagern, über die man relativ viel weiß, erforscht werden, sondern bisher unbekannte derartige Lager – großteils nur Barackendörfer – im niederösterreichischen Zentralraum. Und natürlich vor allem damit verwobene menschliche Schicksale.

Lagerausweis Roszi Wolf
Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Ein Brief, ein Ausweis, ein Foto können in der Geschichtsforschung einiges auslösen

So sorgte etwa ein Brief der damals inhaftierten Jüdin Rozsi Wolf Ende der 90er Jahre dafür, dass erst zu diesem Zeitpunkt bekanntwurde, dass es im St. Pöltner Stadtteil Viehofen ein solches Lager gab. Es wurde inzwischen archäologisch untersucht, während viele andere vergessen bleiben. „Die direkt Betroffenen hatten sehr lang Angst und schwiegen oft bis zu ihrem Tod, die zweite Generation sagte und fragte oft nicht aus Rücksicht auf ihre Eltern“, sagt Keil.

Die dritten Generation mache nun „den Mund auf“, so Keil. Das beobachte man bei allen traumatischen Ereignissen. „Diese Menschen spüren zwar auch die Belastung in der Familie, aber die wollen das klären.“ Zwar sei durch zwei Generationen Wissen verloren gegangen, aber möglicherweise gebe es etwa ein „Packerl Briefe“, das irgendwo liege, meint die Direktorin des Institutes für jüdische Geschichte Österreichs.

Kontakt zum Forschungsprojekt

Das Projekt „NS-‚Volksgemeinschaft‘ und Lager im Zentralraum Niederösterreichs“ will bisher unbekanntes Wissens ans Tageslicht bringen. Informationen können an das Institut für jüdische Geschichte Österreichs gerichtet werden bzw. an Martha Keil unter 02742/77171-0 oder martha.keil@injoest.ac.at.

„Schneeballeffekt“ erhofft

Noch sei es möglich, mit letzten Zeitzeugen und deren Nachkommen etwas ans Licht zu holen, sagt Keil: „Wir hoffen, dass wir durch Mundpropaganda, durch Veranstaltungen, die wir machen werden, aber auch durch Gemeindebibliotheken Leute finden, die ein Privatwissen – oder besser, ein Familienwissen – haben: von den Lagerstandorten, den Inhaftierten und den Kontakten mit ihnen.“

Dieses Wissen müsse es schließlich geben. „Hunderttausende Gefangene: Da muss es eine Infrastruktur gegeben haben, Zulieferung von Lebensmitteln oder eben auch die Zwangsarbeit auf den Bauernhöfen und Baustellen“, so Keil. Sie hofft auf einen „Schneeballeffekt“, sodass eine Information die andere anstoßen könnte. Allerdings sei völlig offen, wie dieses dreijährige Projekt ausgehen werde.