rückwärtige Front der Wohnhäuser der Arbeitersiedlung
Wissenschaft

Von Marienthals Arbeitslosen zu Weltrang

Mit detaillierten Beschreibungen der Folgen von Arbeitslosigkeit hat Marie Jahoda in den 1930er Jahren internationale Beachtung gefunden. In Österreich wurde sie damals politisch verfolgt. Heuer wäre die Pionierin der Sozialwissenschaften 115 Jahre alt geworden.

Den Arkadenhof der Universität Wien zieren mehr als 150 Denkmäler, fast alle von Männern. Erst anlässlich des 650-Jahr-Jubiläums der Universität im Jahr 2015 wurde ein Projekt samt Kunstwettbewerb ins Leben gerufen, um erstmals Frauen für ihre wissenschaftliche Leistung individuell zu ehren. Eine der wenigen, die es bis heute in den Innenhof der Universität geschafft hat, ist Marie Jahoda, die am 26. Jänner ihren 115. Geburtstag gefeiert hätte und als Pionierin der empirischen Sozialforschung gilt.

International bekannt wurde Jahoda durch eine umfangreiche Studie, in der sie die überwiegend arbeitslose Bevölkerung in Marienthal, einem Ortsteil von Gramatneusiedl (Bezirk Bruck an der Leitha) beschrieb. Nachdem die Gemeinde wegen der dort ansässigen Textilfabrik gegründet worden war, führte deren Schließung infolge der Weltwirtschaftskrise um 1931 dazu, dass die Einwohnerinnen und Einwohner des Orts schlagartig arbeitslos wurden. Fast alle der knapp 500 Familien verloren binnen kurzer Zeit ihre Existenzgrundlage.

Ein Ort voll Arbeitsloser wird zur Feldstudie

Zur Beschreibung dieser Folgen kombinierte Jahoda gemeinsam mit ihrem Ehemann Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel unterschiedliche – damals revolutionäre – Methoden. Sie lebten sogar mit der Marienthaler Bevölkerung zusammen, indem sie beispielsweise ärztliche Sprechstunden anboten, Kurse abhielten oder Kleidersammlungen organisierten, um Vertrauen aufzubauen.

Indem das insgesamt fünfzehnköpfige wissenschaftliche Team Katasterblätter zu allen Familien des Ortes anlegte und diese mit diversen Daten aus Interviews und Erhebungen ergänzte, erhielt es einen umfangreichen Eindruck über unterschiedliche Lebensbereiche, in denen sich die Folgen der anhaltenden Arbeitslosigkeit ausdrückten – sowohl bei den einzelnen Personen als auch innerhalb der Gemeinschaft.

Marie Jahoda
ORF / Archiv
Marie Jahoda in einem ORF-Interview 1983: „Eine geregelte Arbeit, ist, glaube ich, für die meisten Menschen eine ungeheure psychologische Hilfe, um einen Sinn aus ihrer eigenen Existenz zu machen.“

Jahoda zeigte mit dem Forschungsprojekt auf, dass Langzeitarbeitslosigkeit vor allem zu Resignation führte und belegte die psychosozialen Folgen mit Beobachtungen beginnend bei der Unlust der Marienthaler Bevölkerung in Bezug auf deren Freizeitgestaltung bis zur Vernachlässigung von deren Kindern oder Wohnungen. In einem Ort, der wegen der Fabrik entstanden war, wurde die Arbeitslosigkeit zur einzigen Identifikation.

Politisches Engagement beendete Karriere in Österreich

In Österreich fiel Jahoda bald weniger wegen ihrer Studie denn politisch auf. Jahoda war seit ihrer Jugend in der Arbeiterbewegung engagiert, ein Engagement, das ihr drei Jahre nach Veröffentlichung der Studie zum Verhängnis wurde. Weil sie auch bei den Revolutionären Sozialisten im Untergrund tätig war, wurde sie 1936 verhaftet. Auch durch internationale Einflussnahme kam sie nach neun Monaten schließlich frei und musste das Land binnen 24 Stunden verlassen. Die österreichische Staatsbürgerschaft war ihr aberkannt worden.

„Ihr Verbrechen war, als revolutionäre Sozialistin die Diktatur des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes bekämpft zu haben. Bei den Verhören und vor Gericht hielt sich Jahoda strikt an eine Regel der konspirativen Untergrundarbeit: Gib nur zu, was nicht mehr bestritten werden kann, und belaste andere nicht“, so das Resümee eines jüngst erschienen Buchs, das sich mit ihrer politischen Seite befasst, die sie letztlich ins englische Exil getrieben hat.

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Künstlerin Catrin Bolt mit ihrem Denkmal von Marie Jahoda
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Drei Jahre vor Jahodas Tod wurde sie mit einem „Tore der Erinnerung“ am Campus der Universität Wien geehrt. 2016 wurde für sie ein Denkmal im Arkadenhof der Universität Wien errichtet, das die Künstlerin Catrin Bolt gestaltete.
Denkmal von Marie Jahoda
derknopfdruecker.com
Von 1926 bis 1932 studierte Jahoda Psychologie an der Universität Wien, wo sie im Alter von 25 Jahren als eine der jüngsten Doktorinnen Österreichs promovierte
Marie Jahoda bei der Überreichung ihres Ehrendoktorats
Archiv Universität Wien/ Vouk
1998 wurde Marie Jahoda die Ehrendoktorwürde der Universität Wien durch Rektor Wolfgang Greisenegger verliehen
Straßenfront der Wohnhäuser der Arbeitersiedlung
Auch in Gramatneusiedl erinnern viele Plätze an Jahodas Arbeitslosen-Studie, nicht nur die Straßenfront der Wohnhäuser der Arbeitersiedlung Marienthals
Straßentafel in Gramatneusiedl zur Erinnerung an Marie Jahoda
So ist beispielweise ein Platz nahe der Gramatneusiedler Hauptstraße nach der Wissenschaftspionierin benannt

„Sie war eine schlagfertige Frau mit Fantasie“

Im kürzlich erschienenen Buch „Akteneinsicht. Marie Jahoda in Haft“ (StudienVerlag, 2022) – der vierte Teil einer Jahoda-Edition – lernt man die Wissenschaftlerin von ihrer bisher wenig beleuchteten Seite kennen. Mitherausgeber und Jahoda-Experte Meinrad Ziegler beschreibt Jahoda als Frau mit vielen Facetten, die viel zu lange unbeachtet geblieben sind. Ob sich Jahoda mit ihrer Vergangenheit in Österreich versöhnen konnte, lässt er – zumindest teilweise – offen.

noe.ORF.at: Den Antisemiten in Wien war Jahoda gleich mehrfach ein Dorn im Auge. Was wog am schwersten? Dass sie Jüdin, Sozialdemokratin oder Wissenschaftlerin und noch dazu eine Frau war?

Meinrad Ziegler: In den 1930er Jahren standen zweifellos die politischen Konflikte im Vordergrund. Auf der einen Seite das Rote Wien, das mit demokratischen Mitteln die realen Lebensverhältnisse für die arbeitenden Schichten zu verbessern suchte. Und auf der anderen Seite die Konservativen und Nationalen, die meinten, mit der Diktatur einen Ausweg aus der Krise finden zu können. Jahoda wurde in erster Linie als Sozialistin verfolgt und als Staatenlose aus Österreich ausgewiesen. Allerdings muss man auch sagen: Wäre sie 1938 als der Polizei bekannte Sozialistin und Jüdin noch in Österreich gewesen, hätte sie das vermutlich nicht überlebt.

noe.ORF.at: Während ihrer Verhöre hat sich Marie Jahoda nicht kleinkriegen lassen und bei ihren Vernehmungen keine anderen involvierten Personen erwähnt. Was war die Triebfeder für ihre Standhaftigkeit?

Ziegler: Es gab mehrere persönliche Fähigkeiten, auf die sie sich stützen konnte: Bildung, Schlagfertigkeit und Fantasie. Eine starke Kraft bezog sie damals aus der inneren Überzeugung, dass das Projekt eines demokratischen Sozialismus realisiert werden kann und das Aufkommen des Faschismus in Österreich wie in Europa bekämpft werden muss.

noe.ORF.at: Nachdem Marie Jahoda Österreich verlassen musste, hat sie in Großbritannien und den USA gelebt und dort wissenschaftlich gearbeitet. Inwieweit war sie in ihrer Arbeit geprägt und vielleicht auch angetrieben von ihrer lange unbeleuchteten Vergangenheit in Österreich?

Ziegler: Jahoda hat eigentlich unglaublich modern und weitsichtig gedacht und geforscht. Viele ihrer Themenstellungen betreffen Probleme und Konfliktpunkte jener Gesellschaften, in denen sie gerade gelebt und gearbeitet hat. Dabei geht es um Fragen, die uns auch heute noch berühren: die sozialen Hintergründe von Vorurteilen und Antisemitismus, das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, die sozialen Bedingungen von Unabhängigkeit und Konformismus. Einer ihrer letzten Vorträge in deutscher Sprache, den sie 1997 in Wien gehalten hat, behandelte das Problem des Nationalismus in einer globalisierten Welt. Und dann ist da noch das Thema der Arbeitslosigkeit und der Bedeutung von Arbeit, das Jahoda in ihrem Leben immer wieder aufgegriffen hat.

Meinrad Ziegler
Michael Holzer
Meinrad Ziegler, emeritierter Universitätsprofessor und Jahoda-Experte

noe.ORF.at: Welche Schritte setzt ein Mensch aus individuell-persönlicher Motivation und wozu treibt einen das Umfeld? Diese Frage zieht sich durch sämtliche Werke von Marie Jahoda. Welche ihrer Erkenntnisse haben bis heute Bestand?

Ziegler: Als Sozialpsychologin sah Jahoda den Menschen vor allem als soziales Wesen. Frauen und Männer entwickeln und verändern sich durch die sozialen Erfahrungen in Familie, in dem Milieu der sozialen Herkunft, der Kultur und Gesellschaft, in denen sie leben und arbeiten. Aus diesem Grund kann weder das Individuum noch ein Kollektiv isoliert voneinander untersucht werden. Wir müssen immer beides und die Wechselwirkungen im Auge behalten.

noe.ORF.at: Ihr wissenschaftliches Vermächtnis ist – wie man zumindest heute weiß – beachtlich. Bei uns am bekanntesten und nach wie vor rezipiert ist ihre Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ – ein unglaublich aufwendiges und damals auch innovatives Projekt. Ist eine vergleichbare sozialwissenschaftliche Feldstudie – knapp 100 Jahre später – heute möglich bzw. finanzierbar?

Ziegler: Gegenstand der Marienthal-Studie war weniger die individuelle Arbeitslosigkeit, sondern die Arbeitslosigkeit eines ganzen Dorfes. Im Marienthal der 1930er Jahre ging die Forschungsgruppe explorativ vor. Sie wollte die weitgehend unbekannte alltägliche Lebenspraxis einer arbeitslosen Gemeinschaft erforschen, die bis dahin niemanden interessiert hat.

Heute müsste eine ähnliche Studie an die Bedingungen des globalisierten Kapitalismus angepasst werden und vielleicht eine wirtschaftlich verödete Randregion untersuchen. Was bedeutet die strukturelle Arbeitslosigkeit, die erzwungene Mobilität der Arbeitskräfte, die Schrumpfung der Infrastruktur, die Erfahrung des Zurückbleibens für die sozialen Beziehungen, den sozialen Horizont der Menschen und die existenzielle Befindlichkeit, die wir „mental health“ nennen? Eine solche Studie wäre heute möglich. Jedoch ist der heute dominante Mainstream in der modernen Sozialforschung theoriegeleitet, experimentell und vermessend ausgerichtet und scheut die Mühen der Feldforschung.

noe.ORF.at: Jahoda wurde nach einer sehr erfolgreichen Karriere im englischsprachigen Raum erst in den letzten Jahren ihres Lebens in Österreich geehrt. War sie Ihrer Einschätzung nach mit Österreich letztlich versöhnt?

Ziegler: In den 1980er und 1990er Jahren hat sich der Grazer Soziologe Christian Fleck intensiv mit Marie Jahoda und ihren Arbeiten beschäftigt und ihre englischsprachigen Arbeiten ins Deutsche übersetzt und publiziert. Jahoda hat das Freude bereitet. Jedoch war das Interesse innerhalb der Sozialwissenschaften recht begrenzt. Das offizielle Österreich ist erst spät in den 1990er Jahren an Jahoda herangetreten. Sie fühlte sich schon angesprochen und ist für die Ehrungen in hohem Alter noch nach Österreich gekommen. Abgesehen von diesen Anlässen hat Jahoda an Österreich immer die Berge und die Walderdbeeren geliebt.