Ulrich Seidl bei der Berlinale 2022
APA/dpa/Jörg Carstensen
APA/dpa/Jörg Carstensen
Kultur

Ulrich Seidl mit „Rimini“ bei der Berlinale

Das österreichische Filmschaffen wird bei der 72. Berlinale ein starkes Lebenszeichen von sich geben. Die Weltpremiere von „Rimini“, dem neuen Spielfilm des aus Horn stammenden Filmregisseurs Ulrich Seidl über einen einst gefeierten Schlagerstar, war am Freitagabend.

Es ist eine substanzielle Trost-Losigkeit im doppelten Wortsinne, die Ulrich Seidls Filme durchzieht. Wohl kaum ein Regisseur schafft es, Lebenswelten und Menschen mit ebenso genauem wie mitleidslosem Blick zu zeichnen und gleichzeitig zu desavouieren. Mit „Rimini“, der Freitagabend Weltpremiere im Wettbewerb der soeben angelaufenen Berlinale feierte, schafft der aus Horn stammende Filmemacher (im Bild oben) die Figur des abgehalfterten Schlagersängers Richie Bravo, als der Michael Thomas brilliert.

Gleichsam als Prolog und Verbindung zur Spiegelexistenz des Vaters im österreichischen Pflegeheim, steht am Beginn von „Rimini“ die Beerdigung der Mutter in der burgenländischen Einöde von Parndorf im Winter. Hier verabschiedet sich Richie Bravo gemeinsam mit seinem kleinen Bruder Ewald (Georg Friedrich) nicht nur von dem mit Charlton-Heston- und Roy-Black-Postern drapierten Kinderzimmer, sondern auch der sattsam bekannten Tristesse aus Partykeller, Dekorationsgeweihen und Fernsehsessel. Ewald wird im nächsten Film von Seidl seine eigene Geschichte haben.

Mitleidsloses Porträt eines abgehalfterten Schlagersängers

In „Rimini“ hingegen steht Richie im Fokus. Der lässt die Parndorfer Eintönigkeit für eine andere hinter sich. Die italienische Badefabrik Rimini ist im Winter eine eisige Einöde. Und wie im Altenheim des dementen Vaters (der große Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Kinorolle) die graue Wirklichkeit mit Fototapeten zugekleistert wird, die als zynische Verweise auf eine andere, bessere Welt dienen, sind auch die ihrer Funktion enthobenen Hotelburgen im menschenleeren Nichts letztlich Abziehbilder einer verkitschten Existenz, brüchige Rudimente einer inhaltlosen Hülle.

Regisseur Ulrich Seidl und die Schauspielerinnen Tessa Göttlicher (l) und Claudia Martini beim Photocall zum Berlinale-Wettbewerbsfilm „Rimini“
APA/dpa/Jörg Carstensen
Regisseur Ulrich Seidl (M.) und die Schauspielerinnen Tessa Göttlicher (l.) und Claudia Martini (r.) beim Photocall zum Wettbewerbsfilm „Rimini“

Lediglich einige wenige österreichische Bustouristen bevölkern dieses Niemandsland. Vor diesen intoniert Richie mit blondierter Mähne und im bunten Glitzerdress seine Schnulzen und lässt seinen aus der Zeit gefallenen Charme spielen. Für mehr müssen die Damen nach dem Auftritt extra bezahlen, was sie auch tun. Der stete Schluck aus diversen Pullen gehört zum Alltag.

In diesen routinierten wie erstarrten Ablauf in den verlassenen Hotelfoyers, die ebenso den Glanz vergangener Jahre widerspiegeln wie der Protagonist, bricht letztlich Richies erwachsene Tochter Tessa (Tessa Göttlicher). Sie fordert von ihrem Erzeuger die über Jahre ausgebliebenen Alimente ein und konfrontiert den Gigolo mit einer seiner zahlreichen Lebenslügen.

Fremdschämen als zentraler Wirkmechanismus

Auch in „Rimini“ ist wie in allen Seidl-Werken das Fremdschämen ein zentraler Wirkmechanismus. Seidl hält in den Momenten auf die Szenerie, in der andere Filmemacher abblenden. Dies trägt in Kombination mit dem erstaunlich authentischen Spiel der Akteure dazu bei, dass die Grenzen zwischen dem dokumentarischen und fiktionalen Werk des Regisseurs verschwimmen.

Auch in „Rimini“ sind es die knappen Dialoge, die gleichsam Schlaglichter auf den Kern einer Szene werfen, den Seidl wie ein Bildhauer mit groben Schnitten aus dem Stein der längeren Einstellung schneidet. Es wird das Innere freigelegt, indem das Äußere abgeschlagen wird. Das Echte in dieser vom Falschen dominierten Lebenswelt wird dadurch kenntlich.

Buttons des Filmfestivals Berlinale in Berlin 2022
APA/dpa-Zentralbild/Jens Kalaene

„Dabei bilden die einzelnen Sequenzen gleichsam Mikrowelten für sich, die als Hochamt des Istzustands dennoch nicht völlig isoliert bleiben, sondern mosaikartig ein Ganzes ergeben. Und dieses Bildpanorama, das sich hier formiert, ist kein schönes. Letztlich stehen die Figuren nicht in Beziehung zueinander, sind in ihren jeweiligen Schablonen gefangen. Bis am Ende des Films nüchtern und doch metaphorisch die Realität in diese Scheinwelt einbricht“, schreibt APA-Filmkritiker Martin Fichter-Wöß. Diese Konfrontation mit der Leinwand ist nach der Berlin-Premiere am 6. April auf der Grazer Diagonale zu erleben. Und am 8. April soll der neue Spielfilm von Ulrich Seidl bereits in die heimischen Kinos kommen.

Regisseur Ulrich Seidl: „Jeder will gewinnen“

Ulrich Seidl ist mit „Rimini“ zurück im Kino, nachdem der Kultfilmemacher 2016 mit „Safari“ zuletzt einen Film als Regisseur veröffentlicht hatte. Das Werk um den abgehalfterten Schlagersänger Richie Bravo, gespielt von Michael Thomas, feiert am Freitag bei der Berlinale seine Weltpremiere im Wettbewerb. Aus diesem Anlass sprach der 69-Jährige mit Martin Fichter-Wöß von der APA über den Typ Schauspieler, den er benötigt, das Reifen von Ideen und persönlichen Ehrgeiz.

Zwischen „Safari“ und nun „Rimini“ liegen einige Jahre. War das Ihrer Arbeit als Produzent für andere Filmemacher oder den Covid-Problemen geschuldet?

Ulrich Seidl: Es hatte weder mit Covid noch meiner Produzententätigkeit zu tun. „Rimini“, der mit Arbeitstitel ja „Böse Spiele“ geheißen hat, ist einfach ein sehr umfangreiches und zeitaufwendiges Projekt geworden. Ursprünglich hatte ich vom Drehbuch her zwei Geschichten im Kopf – und nun gibt es am Ende zwei Filme: „Rimini“ mit Richie Bravo im Zentrum und einen zweiten, in dem dann Richies jüngerer Bruder Ewald, den Georg Friedrich spielt, die Hauptfigur sein wird. Es war die künstlerisch überzeugendste Entscheidung, dass es nun diese beiden Filme gibt.

Filmfestival Berlinale
Daniel Seiffert/Berlinale

„Paradies: Liebe“, „Safari“ oder jetzt „Rimini“ eint als eine Themenachse die Frage des Tourismus, der Reise. Was lässt Sie an diesem Thema nicht los?

Seidl: So einfach, dass man da einen roten Faden hätte, den man verfolgt, ist es nicht. Die Entstehung der Geschichte rund um Richie Bravo reicht schon lange zurück – weit vor „Paradies: Liebe“. Meine Filme entstehen aus unterschiedlichsten Ideen und oft über sehr lange Zeiträume. Ich habe mit Michael Thomas ja schon bei „Import Export“ zusammengearbeitet und hatte damals bereits die Idee, ihn bei einem Episodenfilm als Sänger, als aus der Zeit gefallenen Charmeur der alten Schule in ein All-inclusive-Ressort zu stellen, wo er sich als Witwentröster betätigt. Dieser Film ist dann aber nie gedreht worden. Aber die Figur des Richie Bravo ist mir dann Jahre später wieder eingefallen.

Sie haben mit „Rimini“ nun beinahe ausschließlich mit Profischauspielern wie Michael Thomas, Inge Maux oder Claudia Martini zusammengearbeitet. Wie gelingt es Ihnen, dass Akteure bei Ihnen so anders, „authentischer“ agieren als bei anderen Regisseuren?

Seidl: Für mich kommen nicht viele Schauspieler in Frage. Für mich kommen nur Schauspieler in Frage, die solch eine Präsenz haben, dass sie vor der Kamera eigentlich nicht spielen müssen. Sie müssen improvisieren können, wahrhaftig sein, nicht mit einer vorgefassten Meinung ans Set kommen, sondern sich über lange Zeit eine Rolle aneignen. Sie müssen spontan agieren können, weil ihnen die Rolle auf den Leib gewachsen ist. Es gibt viele sehr bekannte Schauspielerinnen, die gerne mit mir arbeiten würden, aber ich weiß: das geht nicht. Improvisieren ist etwas enorm Schwieriges.

Filmfestival Berlinale in Berlin 2022
APA/dpa-Zentralbild/Jens Kalaene

Wie gehen Sie beim Dreh damit um, dass Improvisation und Wiederholung einer Szene sich ja eigentlich ausschließen?

Seidl: Das entsteht im Schneideraum. Bei mir werden Szenen 1:1 gespielt und mit einer Kamera aufgenommen – aber durchaus wiederholt, auch wenn sie improvisiert sind. Das ist nicht leicht, weil die Schauspieler in einer Szene ja immer wieder eine spezielle Stimmung erzeugen müssen. Aber im Schneideraum wächst das zusammen.

Im Text der Berlinale wird „Rimini“ als Ihr „Opus magnum“ angekündigt. Sehen Sie das selbst ebenfalls so?

Seidl: Das habe noch gar nicht gehört. Aber nein, das sehe ich nicht so! Zugleich weiß man das selbst natürlich auch nicht. Was andere behaupten, lasse ich so stehen.

Sie sind wie praktisch immer mit ihren Werken auch mit „Rimini“ nun wieder im Wettbewerb eines der großen Festivals. Hat das für Sie lediglich in der Frage der Aufmerksamkeit eine Bedeutung, oder sind Sie auch ein ehrgeiziger Mensch, der nun gewinnen will?

Seidl: Jeder will gewinnen. Man ist in einem Wettbewerb, und jeder wird sich freuen, wenn er einen Preis bekommt. Aber die Dinge sind wie sie sind. Ich habe diesen Film gemacht und ihn nun aus der Hand gegeben. Was nun damit passiert, darüber kann ich nicht mehr bestimmen.