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Gesundheit

Ein Leben mit dem Rett-Syndrom

In Österreich haben fünf bis sieben der 80.000 jährlich geborenen Babys das Rett-Syndrom. Es handelt sich dabei um einen Gendefekt, der fast nur Mädchen betrifft und schwere geistige und körperliche Beeinträchtigungen mit sich bringt.

Entdeckt und benannt wurde das Rett-Syndrom nach dem Wiener Arzt Andreas Rett, der die Krankheit erstmals beschrieben hat. Sie gilt als äußerst seltene, genetisch verursachte Entwicklungsstörung des zentralen Nervensystems. Für Eltern besonders belastend ist, dass sich die Babys die ersten ein bis eineinhalb Jahre völlig normal entwickeln, die dann aber bereits erworbenen Fähigkeiten verlernen.

Diese Erfahrung hat auch Barbara Borns gemacht, die Mutter der mittlerweile erwachsenen Marianne. „Marianne war ein aufgewecktes Kind. Hat schon selber zum Beispiel Apfelstücke gegessen. Sie hat auch unheimlich viel geplappert. Und dann kam ein Stillstand in der Entwicklung, und dann Rückschritte“, erinnert sich die Mutter.

Erworbene Fähigkeiten werden plötzlich verlernt

„Das ist dramatisch für die Familie. Es kommt zu einer sehr beeinträchtigenden Entwicklungsstörung, die zwar keine Auswirkungen auf das Lebensalter, aber auf viele Lebensfunktionen hat“, erklärt der Wiener Kinderarzt Michael Freilinger gegenüber noe.ORF.at.

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Barbara Borns mit ihren Töchtern Marianne und Iris beim Betrachten von Urlaubsfotos

„Mein Segen war, dass ich ein zweites Kind gehabt habe, als wir die Diagnose bekommen haben. Das Gefühl kein gesundes Kind bekommen zu können, war dadurch quasi geheilt. Vor allem wenn man den anderen Kindern beim Spielen zusieht und weiß: Das eigene wird da nie mitmachen“, erklärt Borns ihren Umgang mit der erschütternden Diagnose.

Viele Therapien notwendig um Kinder zu unterstützen

Die meisten Kinder sind beim Sprechen beeinträchtigt, gehen unsicher und haben oft epileptische Anfälle. Meist kommen Physio- und Ergotherapie sowie Logopädie zum Einsatz. Letztere zum Beispiel, damit die Kinder das Kauen üben und sich damit die Fähigkeit erhalten, selbst zu essen. Viele Menschen mit Rett-Syndrom werden nämlich über eine Sonde ernährt.

Mit ihren Beeinträchtigungen nehmen die Kinder am Alltag teil. „Sowohl in der Schule als auch zuhause, wenn die anderen Kinder etwas angestellt haben, hat Marianne immer eine Freude gehabt. Sie hat immer gelacht. Da hat man immer das Gefühl gehabt, sie wäre auch gerne einmal schlimm. Das geht halt nicht. Aber sie hat es genossen, wenn rundherum was los war“, erinnert sich Barbara Borns zurück. Mariannes drei Geschwister sind alle jünger und haben mit ihrer Beeinträchtigung von klein auf ganz selbstverständlich leben gelernt.

Schwester als „Zufluchtsort“

„Marianne war mein Zufluchtsort. Wenn ich mit meinen Eltern oder Geschwistern Streit hatte, bin ich zu ihr gegangen und habe ihr meine Sorgen erzählt und habe gewusst, dass sie das nicht weitersagen wird“, erzählt Mariannes Schwester Iris. „Wir haben teilweise mehr als Familie erlebt, als ich das bei Freunden beobachtet habe. Es war auch immer klar, dass wir zusammenhelfen müssen, damit wir große Urlaube machen oder andere Dinge unternehmen können.“

Das Reisen war zwar auch anstrengend – Marianne braucht einen geregelten Tagesablauf – aber die Kinder haben es genossen, dass sie mit Marianne, die einen Rollstuhl benötigt, als erstes in das Flugzeug einsteigen dürfen, oder beim Eiffelturm in Paris nicht in der langen Schlange warten mussten. Ihr Bruder Werner ergänzt: „Wenn man jüngere Geschwister hat, muss man auf sie aufpassen. Und hier ist es auch so ähnlich, dass man, wenn die Eltern wo anders sind, aufpassen muss auf Marianne, dass wir sie füttern und ins Bett bringen.“

Wissenschaft forscht zu Gentherapie als Behandlung

Wie lange Marianne von ihren Eltern betreut werden kann, ist ungewiss. In Orth an der Donau (Bezirk Gänserndorf) entsteht derzeit ein „Haus mit Leben“, ein Haus für Schwerbehinderte. „Wir hatten ja bisher in der Gegend keine Unterbringung für Schwerbehinderte, das wäre eine Alternative. Wir fürchten uns aber auch ein bisschen davor, Marianne ganz wegzugeben“, sagt Barbara Borns.

Ärzte und Wissenschafter arbeiten unterdessen an neuen Therapien. „Es gibt schon viele neue, auch genetische Ansätze, dass man wirklich grundlegend etwas machen kann. Es schaut insgesamt sehr hoffnungsvoll aus“, so Kinderarzt Freilinger. Gentherapie könnte der Schlüssel für die Behandlung von künftigen Rett-Syndrom-Mädchen sein.