Cover Zdenka Becker Es it schon fast halb zwölf
Amalthea Verlag
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Kultur

Zdenka Beckers Roman über Schuld im Krieg

Kollektive und persönliche Schuldgefühle überdecken einander im neuen Buch „Es ist schon fast halb zwölf“ der in St. Pölten lebenden Schriftstellerin Zdenka Becker. Der Briefroman basiert auf einer wahren Geschichte.

„Vor einigen Jahren, als mein Schwiegervater starb, fanden wir auf dem Dachboden unseres Hauses Kisten mit alten Briefen, Dokumenten und Fotos. Mein Mann hat das Material gesichtet, eingescannt und zu Büchern binden lassen. Und als ich dann die Briefe gelesen habe, sah ich sofort, dass sich darin eine sehr interessante Familiengeschichte verbirgt. Ein großer Teil der Handlung des Romans spielt in unserem Haus, in dem ich seit 40 Jahren lebe. Eine bessere Inspiration gibt es nicht“, erzählt die Autorin Zdenka Becker über das Entstehen ihres jüngsten Buches.

Es sei ihr aber wichtig zu betonen, dass diese Geschichte keine Biografie von irgendjemandem sei, so die Schriftstellerin, die mit den zuletzt erschienenen Romanen „Samy“ (2018) und „Ein fesches Dirndl“ (2019) Erfolge verzeichnen konnte. "Diese Personen haben mich zu dem Roman, in dem vieles verändert und ausgedacht ist, inspiriert. Ich selbst bin nur die Erzählerin und komme in dem Roman nicht vor.

Veranstaltungshinweis

Zdenka Becker präsentiert am 18. März 2022 um 18.30 Uhr im Stadtmuseum St. Pölten im Gespräch mit Hubert Wachter ihr Buch „Es ist schon fast halb zwölf“.

Ein Briefwechsel im Zweiten Weltkrieg

Die 90-jährige Hilde Dorn lebt mit ihrem dementen Mann Karl in einem Dorf namens Fischbach. Der Ortsname hat nichts mit dem steirischen Fischbach zu tun, sondern ist fiktiv. Dieses Fischbach liegt irgendwo nahe der Traisen in der Umgebung von St. Pölten. Frau Dorn hütet auf dem Dachboden eine Kiste mit alten Briefen, die ihre Korrespondenz mit Karl aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs enthalten, als das damals junge Ehepaar umständehalber meist getrennt lebte. Denn Karl arbeitete in Ludwigsfelde südlich von Berlin bei Daimler-Benz in der Produktion von Flugzeugmotoren. Hilde liest nun die Briefe als Greisin und hält Rückschau auf eine nur scheinbar entfernte Zeit.

Dieser Briefwechsel macht einen Großteil des Romans aus und eröffnet Einblicke in den damals kargen Alltag der Bevölkerung. Nicht immer ist alles weltbewegend, vieles wirkt flüchtig zwischen dem Einkochen von Stachelbeermarmelade und dem Wunsch nach Zusendung von Zigaretten, zwischen Beschreibungen der Wetterlage, Zeitangaben und Nachrichten aus der Verwandtschaft.

Zwei Menschen, die um ihre Träume betrogen wurden

Im Lauf der Jahre nimmt die Verzweiflung zu und die Möglichkeit, einander zu sehen, ab. Das zunächst gemeinsam bezogene armselige Zimmer in Berlin muss wieder aufgegeben werden, Hilde bleibt mit ihrem Kleinkind, der „braven Trudi“, in Fischbach zurück, wo sie ihrer älteren Schwester und deren Tochter zur Hand geht. Beide, Schwester und Nichte, fallen einem jeweils bösen Schicksal zum Opfer. Und ein weiterer Todesfall im nächsten persönlichen Umfeld, für den sich Hilde mitschuldig fühlt, bleibt fast bis zum Schluss ungeklärt.

Zdenka Becker
Helmut Lackinger
„Ein großer Teil der Handlung des Romans spielt in unserem Haus, in dem ich seit 40 Jahren lebe. Eine bessere Inspiration gibt es nicht“, erzählt Zdenka Becker.

Kennengelernt haben Hilde und Karl einander beim Schwimmen in der Traisen. Zuletzt landen sie in einem idyllischen Altersheim mit Park an dem Fluss: ein beschaulicher Lebensabend zum scheinbar harmonischen Finale. Karl war kein Soldat, kein Frontkämpfer, offenbar hat er niemand ums Leben gebracht, hat insofern „Glück“ gehabt. Und doch empfindet er sich schuldbewusst als „Teil einer Tötungsmaschinerie“. Auskunft geben wollte er nie: „Er lasse sich nicht vorführen, sagte er, nicht ausfragen.“ Zu viele vor ihm hätten gelogen, „dass sich die Balken biegen“, um sich nachträglich ins rechte Licht zu rücken.

Buchhinweis

Zdenka Becker: „Es ist schon fast halb zwölf“. Amalthea Verlag, 256 Seiten, 25 Euro.

Karl und Hilde sind weder Opfer noch Helden, sondern im Grunde um ihre Träume Betrogene. Am schönsten war die Zeit in Berlin, als trotz bedrohlicher Vorzeichen noch alle Hoffnungen offen waren. „Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, […] wären wir dortgeblieben“, resümiert Hilde. „Vielleicht wäre aus mir eine echte Berliner Schnauze geworden.“ Doch der unaufhaltsame Krieg prägte alles Weitere. Das zweite Kind bringt die Wende zum Besseren: „Erst als unser Karli am Ende des Sommers 1946 zur Welt kam, versöhnte sich mein Mann mit seinem Schicksal“, berichtet Hilde. Kein Zufall, dass dieser Sohn den Vornamen des Vaters trägt.

Zwischen Zuversicht und Ausweglosigkeit

Das Spannendste an dieser Geschichte sei die Sache mit Mosbach in der Nähe von Heidelberg gewesen, so Zdenka Becker. „Dort war von 1944 bis 1945 das KZ Neckarelz, wo zu Spitzenzeiten 10.000 Menschen, davon die Hälfte KZ-Häftlinge, in einer unterirdischen Bomberflugzeugmotorenfabrik arbeiteten. Das habe ich nicht gewusst, dass ab dem Jahr 1944 die Kriegsproduktion in unterirdische Stollen verlegt worden ist. Und vor allem, dass mein Schwiegervater daran beteiligt war.“

Blick durch das Gitter am Schacht Brasse bei Obrigheim, unterirdische Rüstungsanlage 1944-45, Teil des Außenlager Neckarelz des KZ Natzweiler.
Der Schacht Brasse der unterirdischen Rüstungsanlage bei Obrigheim, Teil des Außenlagers Neckarelz des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof

So habe sie begonnen, in Mosbach zu recherchieren, und „kam nicht aus dem Staunen heraus. Anschließend fuhr ich nach Berlin und sah mir die Originalschauplätze an. Auch die Gespräche mit der Familie und die Recherche in diversen Archiven und im Internet waren sehr hilfreich.“

„Ein Buch, das nach der Lektüre weiterklingt mit seiner Mischung aus Alltagsbewältigung in rauen Zeiten, Zuversicht, trügerischen Utopien, stereotypen Liebesbekundungen, Ausweglosigkeit und letztlich doch Weitermachen. Dass die in Tschechien geborene und der Slowakei aufgewachsene Zdenka Becker ihren Roman auf wahren Begebenheiten und Dokumenten aufbaut, auch wenn die ‚Handlung frei erfunden‘ ist, verleiht ihm ein durchaus spürbares Maß an Authentizität und vermag vielleicht sogar zu mehr Verständnis für eine Generation zu führen, deren letzte Vertreter gerade die Bühne des Lebens verlassen“, schrieb Ewald Baringer in einer APA-Rezension.