„Spitze Fingernägel und Handflächen voller Erde, brennende Köpfe und dystopische Landschaftsanimationen: Die Bildsprache von Dorota Gawedas und Egle Kulbokaites erster institutioneller Einzelausstellung in Österreich ist gewaltig. Ein aufgetürmter Heuhaufen lässt an die Zeit der Hexenverbrennungen denken, ein bedrohlich schwebender Rechen an Hungersnöte, Bauernaufstände, an eine Erde, die brutal ausgebeutet wird und doch nur einen Teil der Menschheit ausreichend ernährt“, heißt es auf der Website des Kunstraum Niederoesterreich über diese Ausstellung, die bis 14. Mai am Standort des Kunstraums, im Palais Niederösterreich in der Wiener Herrengasse, gezeigt wird.
Dorota Gaweda und Egle Kulbokaite lernten einander beim Studium am Royal College of Art in London kennen, seit 2013 arbeiten sie als Duo. Ihre multimediale Praxis – die Performances, Videos, plastische und installative Arbeiten, aber auch Parfums umfasst – schöpft „aus umfassenden historischen und theoretischen Rechercheprozessen, einer hohen Materialsensibilität und intellektueller Offenheit“, so Kuratorin Katharina Brandl. Die beiden erhielten 2021 den Swiss Performance Art Award und den Collide Residency Award, der ihre Residenzen am CERN in Genf und bei Hangar in Barcelona 2022 unterstützen wird.
Eine Welt ohne herkömmliche Kategorien
Der Titel der Ausstellung „Oh, make your fingernails into spades, Your palms into shovels“ bezieht sich auf zwei Zeilen eines Klageliedes, das die beiden Künstlerinnen als Grundlage ihrer Videoinstallation Mouthless Part II schrieben. „Angesiedelt an Dziady, dem slawischen Tag der Toten, zeigt uns die Videoarbeit eine Welt, in der herkömmliche Kategorien wie Mensch, Natur, Stadt, Land, nicht mehr gültig sind", so die Kuratorin.
"Die singenden Performer:innen bewegen sich in einer fluiden Landschaft, die mittels künstlicher Intelligenz animiert wurde. Das Anthropozän und dessen Auswirkungen stehen wie ein Elefant im Raum – ein Vergleich, der nur angebracht ist, weil der Elefant, anders als so viele Spezien, noch nicht dem Massenaussterben zum Opfer gefallen ist“, meint sie weiter. „Unschuldig ist im Anthropozän keine Darstellung von Landschaft mehr.“
Das Ziel ist ein Ort der gemeinschaftlichen Trauer
Inspiriert von baltisch-slawischen Traditionen und ökofeministischen Theorien wollen Dorota Gaweda und Egle Kulbokaite im Kunstraum Niederoesterreich einen Ort der gemeinschaftlichen Trauer erschaffen, erklärt Kuratorin Katharina Brandl.
„Dabei erstarren sie nicht in Melancholie, sondern eröffnen gedankliche Räume, in denen die Grenzen verschwimmen. Ihre Arbeiten propagieren die Möglichkeit eines Zusammenlebens aller Wesen dieser Welt, das der Vorgabe des Fressen-oder-gefressen-Werdens vehement widerspricht.“ Durch ihre Kunst erzeugen Gaweda und Kulbokaite eine Atmosphäre, in der alle Elemente gleichwertig miteinander existieren, „ob Mensch oder Geist, ob lebendig oder tot, ob Performer:in oder Besucher:in“, sagt Katharina Brandl.
Das Jahresprogramm des Kunstraum Niederoesterreich 2022 trägt den Titel „Stages of Grief“ und widmet sich der schwellenhaften Gestalt unserer Gegenwart, so Brandl. „Das kollektive Trauma der Gesundheitskrise der vergangenen Jahre ist noch nicht vorbei, unsere Trauer um all das, was wir verloren haben, aber mittlerweile umso präsenter.“