„Ganz persönlich“

Feichtinger: Putins neue politische Ordnung

Der frühere Brigadier des Bundesheeres Walter Feichtinger gilt als einer der renommiertesten Sicherheitsexperten. Der Maria Anzbacher wird gerade jetzt im Ukraine-Krieg international für seine Expertisen geschätzt.

Der gebürtige Oberösterreicher, Jahrgang 1956, absolvierte die Offiziersausbildung an der Militärakademie Wiener Neustadt. Von 2002 bis zu seiner Pensionierung 2020 war er Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie.

Feichtinger ist Präsident des Centers für strategische Analysen (CSA). Im Interview mit noe.ORF.at gibt er eine Einschätzung, wie lange der Ukraine-Krieg dauern könnte und wie groß die Gefahr eines Atomkrieges ist.

noe.ORF.at: Zwei Monate dauert der Krieg in der Ukraine, fünf Millionen Menschen sind geflüchtet. Wir alle spüren durch Teuerungen die Auswirkungen. Wie lang, schätzen Sie, wird der Krieg noch dauern?

Walter Feichtinger: Das ist die Gretchenfrage schlechthin. Es hängt davon ab, wie der Krieg sich weiterentwickelt und wie die politische Zielsetzung von Präsident Putin aussieht. Er hat da schon eine gewisse Flexibilität gezeigt. Die ganze Ukraine wird sich nicht ausgehen, aber jetzt könnte er einen großen Teil im Osten einnehmen. Das ist offensichtlich das Ziel.

Daher rechne ich damit, dass es hier noch über Wochen heftige Kampfhandlungen gibt. Dann wird sich die Situation einigermaßen geklärt haben. Man kann dann schauen, ob es in Richtung politische Verhandlungen geht. Aber vielleicht ist das eine sehr optimistische Hoffnung.

noe.ORF.at: Geht es Putin nur um die Gebiete im Osten oder will er die ganze Ukraine?

Feichtinger: Es geht um viel mehr. Es geht Präsident Putin sicher darum, in Gesamteuropa eine neue politische Ordnung herbeizuführen. Das heißt, möglichst viel von der Ukraine zumindest noch unter Kontrolle zu bringen. Es ist sicher ein deklariertes Ziel. Ob es darüber hinaus weitere Ziele gibt, das hängt davon ab, ob er die Mittel hat, um es auch entsprechend umzusetzen.

Walter Feichtinger im April 2022
ORF
Feichtinger studierte nebenberuflich Politikwissenschaft und Publizistik. 1998 schloss er sein Magisterstudium ab, 2001 dissertierte er mit einer Arbeit zum Thema „Streitkräfte als Instrument zur Lösung innerstaatlicher Konflikte“.

„Das war ein Riesenfehler“

noe.ORF.at: Hat sich Putin verschätzt, was den Widerstand der Ukraine betrifft?

Feichtinger: Ganz sicher. Nur so ist zu erklären, dass hier um die gesamte Ukraine herum das russische Militär aufmarschiert ist. Das war eine Drohkulisse, die aufgebaut wurde. Es sollte offensichtlich so passieren, dass man ganz schnell in Kiew einrückt, russische Fahnen aufhängt, ein prorussisches Regime, eine neue Regierung installiert, die alte wird abgesetzt. Damit hätte man eigentlich schon den Erfolg gehabt. Aber das war eine totale Fehlkalkulation, weil hier der Widerstand auf politischer und militärischer Ebene in der Ukraine völlig unterschätzt wurde. Das war ein Riesenfehler.

noe.ORF.at: Besteht überhaupt die Möglichkeit, dass sich die ukrainischen Truppen gegen die russische Armee langfristig durchsetzen?

Feichtinger: Bisher haben sie gezeigt, dass sie unglaublich gut sind in der Verteidigung, dass sie den Gegner immer wieder überraschen können und, dass sie bereit sind, zu kämpfen bis zum letzten Mann. Das sehen wir derzeit in Mariupol. Das ist etwas, was man auf der russischen Seite nicht so hat. Ich gehe davon aus, dass man an vielen kleineren Orten russische Erfolge sehen, aber insgesamt die Ukraine nicht militärisch zu bezwingen sein wird.

noe.ORF.at.: Trifft Präsident Putin seine Entscheidungen alleine oder hat er Berater?

Feichtinger: Gerade das jüngste Gespräch mit dem Verteidigungsminister – wo er ihm wie einen Lehrbuben befohlen hat, wie er jetzt in Mariupol vorzugehen hat – weißt eher darauf hin, dass Putin ganz alleine bestimmt.

Walter Feichtinger, Archivbild, in Bundesheer-Uniform
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Der 65-Jährige veröffentlichte zahlreiche Beiträge zu Konfliktforschung und Sicherheitspolitik

Machtdemonstration zur Einschüchterung

noe.ORF.at: Russland hat vor Kurzem eine Interkontinentalrakete getestet mit einer gewaltigen Reichweite. Ist das nur eine Drohung Putins oder ist ein Atomkrieg real?

Feichtinger: Nein, das würde ich entkoppeln. Da ist die Demonstration, dass man zeigt, man hat auch dieses Mittel, man hat auch dieses Gerät. Wir haben ja auch gesehen, dass Hyperschallraketen eingesetzt wurden. Das ist alles nur eine ‚Show of Force‘ und erinnert mich ein bisschen an Nordkorea, wo immer wieder Raketen gestartet werden, um die anderen einzuschüchtern.

noe.ORF.at.: Sie haben sich Ihr Leben lang mit Konflikten befasst, früher beim Bundesheer, jetzt als Berater und Sicherheitsexperte. Wie kommt man dazu, das zu seinem Lebensinhalt zu machen?

Feichtinger: Ich bin da hineingerutscht. Meine ersten Jahre im Bundesheer waren in Richtung Truppen- und Panzeroffizier. Ich war hier in St. Pölten auch Kommandant in der Kopal-Kaserne. Aber es hat mich immer interessiert, wie die Welt funktioniert: Geopolitik und Geostrategie.

noe.ORF.at: Sie sind gebürtiger Oberösterreicher, leben mit der Familie in Maria Anzbach (Bezirk St. Pölten). Sie sind beruflich ständig mit Konflikten konfrontiert. Wie entspannt man am besten?

Feichtinger: Erstens einmal innerhalb der Familie. Zweitens ist Sport ein großes Ventil, eine gute Möglichkeit, den Kopf wieder frei zu bekommen. Man entwickelt dann schon im Lauf der Zeit Möglichkeiten, dass man sagt: Stopp, jetzt ist es aber aus, jetzt denke ich auch an etwas anderes. Wenn man eine Broschüre nimmt, eine Zeitschrift, irgendetwas, um sich abzulenken. Fernsehen ist in der Regel nicht so gut. Ich weiß, das ist gegen ihr Metier (lacht), aber da lande ich automatisch bei den Kanälen, die mir Informationen bieten, und somit ist das kein Abschalten.