Einen unregulierten, unveränderten Bach haben die wenigsten Menschen in ihrem Leben gesehen. Flüsse und Bäche sind begradigt, aufgestaut, ausgeräumt. Ansonsten würde Schwemmgut das Gewässer verklausen. Die Lassing hingegen darf sich ihren Weg bahnen, wie sie will. In ihren Lauf greift der Mensch im Wildnisgebiet nicht mehr ein. Sie überschwemmt regelmäßig Schotterbänke, ist auf keiner Seite eingegrenzt.
In die Lassing entwässert der Urwald – bekannt als Rothwald – des Wildnisgebiets. Dabei handelt es sich um den letzten Urwald der Alpen, sagt Wildbiologin Nina Schönemann. „Aus dem Urwald rinnt das Wasser in den Moderbach und der dann in die Lassing. Das ganze Gebiet grenzt an den Urwald an. Vom Urwald aus können jetzt, weil im Lassingtal wieder Wildnis zugelassen ist, Arten migrieren und sich ansiedeln.“
Urwald als Kern des Wildnisgebiets
Das Wildnisgebiet wurde 2021 flächenmäßig verdoppelt: Zum niederösterreichischen Teil „Dürrenstein“ kam das steirische „Lassingtal“ dazu. 7.000 Hektar Fläche, die von Niederösterreich aus verwaltet werden. Der Urwald selbst ist 500 Hektar groß, die Familie Rothschild stellte ihn 1875 unter Schutz. So wurde der Bereich nie vom Menschen genutzt – anders ist die Lage im Lassingtal.
Die Nutzung begann wahrscheinlich im 14. Jahrhundert, wie in Schriften der Kartause Gaming (Bezirk Scheibbs) nachzulesen ist. Bis zum letztem Sommer wurde das Gebiet bewirtschaftet: Fischerei, Jagd, Forstwirtschaft. Schotter wurde aus der Lassing entnommen, unbewilligte Hochwasserdämme aus Holz gebaut, der Bach ausgegraben, damit weniger Material mitgeschwemmt wird. Mit dem Wildnisstatus ist all das verboten.
Mutter Erde
In allen Medien des ORF wird von 17. bis 29. Mai einerseits über das Thema „Klima und Energie“, andererseits über die „Rückkehr der Wildnis“ berichtet.
Nun hat die Natur wieder die Oberhand. „Jetzt ist es natürlich besonders spannend, regelmäßige Kartierungen zu machen, um zu sehen, wie sich das entwickelt, wie schnell sich die Natur regeneriert“, sagt Wildbiologin Schönemann. Die Folgen der menschlichen Nutzung sind weiterhin sichtbar: Im Wald stehen sehr viele Fichten, hauptsächlich junge Bäume. In einem Forst werden Bäume meist bereits mit 80 bis 100 Jahren entnommen.
Fische brauchen mehrere Lebensräume
Auf den Schotterbänken erobern die Arten ihren Lebensraum zurück: Der Schotter der Lassing erfüllt mehrere Funktionen – etwa im Lebenskreislauf der Fische. „Bei der Eiablage braucht es das richtige Substrat, damit die Eier nicht weggespült werden, aber sie müssen auch durchgespült werden, damit Sauerstoff dazukommt und sie nicht verpilzen. Wenn Fische jung sind, brauchen sie Bereiche, wo Futter zugeschwemmt wird. Wenn sie größer sind, brauchen sie dann das tiefere Wasser im Bach, um zu jagen.“ Wenn einer der Bereiche fehlt, könne es sein, dass eine ganze Art nicht überleben kann.
Unter und zwischen den Steinen auf den Schotterbänken spielt sich eine andere Welt ab. Die Arten seien spezialisiert auf diesen Lebensraum, sagt Schönemann. „Es gibt auch Vögel, die auf solchen Bänken nisten und Gelege ablegen. Die sind selten geworden, weil sie kaum mehr wo solche Bedingungen finden.“

So fand ein Forscher etwa Gebirgsstelzen, Wasseramseln und Flussuferläufer. Bei letzteren brüten die Weibchen nur auf Schotterbänken. Im Gebiet wurden bislang vier Reviere des Flussuferläufers ausgemacht. Die Zahl der Tiere betrage etwa zwei Prozent des österreichischen Gesamtbestandes.
Flussuferläufer brüten ungestört
„Früher gingen die Leute hier baden. Genau dort, wo der Flussuferläufer brütet. Im Wildnisgebiet geht das jetzt natürlich nicht mehr. Das ist für den Flussuferläufer jetzt ganz toll, weil seine Gelege nicht mehr unabsichtlich zerstört werden“, erklärt Schönemann. Mindestens 18 Ameisenarten wurden im Lassingtal schon dokumentiert. Am Ufer der Lassing ist vor allem die Fluss-Knotenameise zu finden. In den Auen rund um den Lassingbach und im Grobschotter leben mindestens 30 Laufkäfer-Arten.
Manchmal ist es aber auch ein gutes Zeichen, wenn eine Art nicht vorkommt: Die Gelbflechte ist stickstoff- und wärmeliebend. Sie entsteht etwa an stark gedüngten Orten und fühlt sich dann so wohl, dass sie andere Arten verdrängt. Im Lassingtal wurde seit Beginn der Erforschung als Wildnisgebiet keine Gelbflechte gefunden.