Zwei ältere Damen spazieren weg
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chronik

Zeitbanken als Zukunftsmodell für das Alter?

In Niederösterreich gibt es immer mehr Zeitbanken: Ihre Mitglieder unterstützen meist ältere Menschen im Alltag und sparen so Stunden an, auf die sie später selbst zurückgreifen können – eine Reportage über Chancen und Risiken einer unkonventionellen Wertanlage.

Monique Spinneal legt Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Als sie am Sommermorgen aus ihrem Haus in Klosterneuburg (Bezirk Tulln) tritt, trägt sie ein gepunktetes, blaues Kleid und roten Lippenstift – bereit für ihren täglichen Spaziergang. Nur die Begleitung fehlt noch. Allein verlässt Spinneal das Haus nicht, zu unsicher ist sie auf den Beinen. „Aber ich muss mich ja bewegen“, sagt sie und lacht. Monique Spinneal ist 90 Jahre alt.

Es heißt, es brauche ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen – aber wie sieht es eigentlich im Alter aus? Spinneal hat drei erwachsene Kinder, aber die können nicht immer da sein. Hier kommt Louise Fichtinger ins Spiel: Die pensionierte UNO-Beamtin ist Mitglied beim Verein „Zeitpolster“ und ebenso fit wie engagiert. Regelmäßig holt sie Spinneal von zu Hause ab, um mit ihr spazieren zu gehen. „Ich wollte mich einfach für eine gute Sache einsetzen“, sagt sie gegenüber noe.ORF.at. Dass sie so für sich selbst Stunden anspart, sei für sie zweitrangig.

Zwei ältere Damen blicken über Panorama in Klosterneuburg
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Louise Fichtinger begleitet Monique Spinnael beim Spazieren – die investierte Zeit kann sie später selbst in Anspruch nehmen

Die eigentliche Idee des Vereins ist es, dass die Mitglieder andere, meist ältere Menschen im Alltag unterstützen – zum Beispiel beim Einkaufen, bei kleineren handwerklichen Arbeiten oder im Haushalt. Die Zeit, die sie auf diese Weise investieren, bekommen sie später wieder zurück – eben dann, wenn sie selbst Hilfe brauchen. Wer selbst noch keine Stunden sammelte, um sie einzutauschen, kann auf konventionelle Weise für die Unterstützung bezahlen.

Wenn die Großfamilie wegfällt, springt der Verein ein

„Zeitpolster“ ist nicht der einzige Verein in Niederösterreich, der auf diesem Prinzip basiert, in letzten Jahren stieg die Zahl der Zeitbanken rapide an. In Maria Anzbach (Bezirk St. Pölten) gründete Barbara Brachmann 2018 die „Zeitbank 55+“. Inzwischen zählt der Verein etwa 40 Mitglieder. „Die Großfamilie gibt es nicht mehr – und das versuchen wir abzudecken“, sagt Brachmann. „Auch, wenn man nur plaudert oder zusammen Kaffee trinkt: Für die ältere Generation ist das etwas Wertvolles.“

Monika Riedel, Gesundheitsökonomin IHS
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Gesundheitsökonomin Monika Riedel erklärt im Interview mit dem ORF Niederösterreich die Vor- und Nachteile von Zeitbanken

In alternden Gesellschaften könnten Zeitbanken immer wichtiger werden. Für die Zukunft der Pflege seien sie zwar keine Lösung, sagt Gesundheitsökonomin Monika Riedel, „aber als zusätzliche Säule in einem System von Betreuung und Unterstützung sehe ich bei Zeitbanken ein großes Potential. Es ist ja nicht so, dass alle mit zunehmendem Alter schlagartig sämtliche Kompetenzen verlieren.“

Die Zeitbank 55+ gibt es in Maria Anzbach und Kirchstetten (beide Bezirk St. Pölten) und in Zwentendorf (Bezirk Tulln). Der Verein Zeitpolster ist in den Gemeinden Klosterneuburg, Krems, Tulln, Wiener Neustadt sowie im Raum Wienerwald aktiv.

Riedel: „Es braucht Vertrauen und Langfristigkeit“

Im Gegensatz zu Geld ist Zeit nicht inflationsabhängig – einmal investiert, verliert eine Stunde nie ihren Wert. Daher könnten Zeitbanken Altersarmut entgegenwirken, so die Gesundheitsökonomin. Eine Schwachstelle hat das Modell jedoch: Was passiert mit angesparten Stunden, wenn sich der Verein auflöst oder zu wenige Mitglieder hat?

Weder „Zeitpolster“ noch „Zeitbank 55+“ können garantieren, dass sie langfristig bestehen. „Wie bei jeder Bank ist auch bei einer Zeitbank das Vertrauen und die Langfristigkeit ein Thema“, sagt Riedel. „Hier könnten sich offizielle Stellen als Garanten einschalten, etwa Gemeinden, das Land oder große, etablierte, karitative Einrichtungen.“ So könnten Zeitbanken tatsächlich ein vielversprechendes Zukunftsmodell für die Unterstützung und Betreuung im Alter sein.