Unter 200 Kilogramm schweren Eisenkreuzen und in 80 Meter Höhe war sie versteckt: die Zeitkapsel der Stiftstürme. Über ihre Existenz konnte man bisher nur mutmaßen. Zwar ist es nicht unüblich, dass in Kirchtürmen aus der Zeit des späten 19. Jahrhunderts Dokumente, Artefakte und manchmal sogar Reliquien in „Zeitkapseln“ mit eingebaut wurden. Doch über die Architektur und Bausubstanz der beiden Kirchtürme des Stiftes Klosterneuburg gibt es so gut wie keine Aufzeichnungen.
Umso größer war die Freude, als am Montag eine unterarmgroße Blechdose, gemeinsam mit viel Staub, aus der vergoldeten Kugel unterhalb des Kreuzes geborgen werden konnte. „Das ist jetzt ein sehr wertvoller Moment“, sagt Spenglermeister Ulrich Sukup, der die Aktion angeleitet hat. „Wenn man sich überlegt: Das waren Leute, die vor 150 Jahren gelebt haben und die uns hier eine Nachricht überlassen haben. Was da drinnen steht, weiß keiner.“
Ungewöhnliches Behältnis gibt Rätsel auf
Gewöhnlich ist diese „Zeitkapsel“ des Stiftes, die Sukup jetzt in den Händen hält, jedenfalls nicht, das stand für den Spengler schon auf den ersten Blick fest. Denn der metallene Zylinder hat an beiden Enden Löcher. „Normalerweise vermeidet man Löcher, die die Kapsel belüften, und lötet alles dicht“, so der Kirchturmfachmann: „Das ist etwas ganz Ungewöhnliches.“
In der Röhre liegen, säuberlich eingerollt, einige Bögen weißen Pergamentpapiers, beschrieben mit schwarzer Tinte. „Papier in ‚Zeitkapseln‘ ist selten“, sagt Sukup. Noch dazu in dieser Verfassung: „So wie ich das sehe, ist das Pergament in ausgezeichnetem Zustand“, ist Sukup begeistert. Das war angesichts der Bedingungen, unter denen die „Zeitkapsel“ in den letzten 150 Jahren existierte, alles andere als erwartbar: In der Kugel herrschten Temperaturunterschiede von bis zu 100 Grad Celsius, die Luftfeuchtigkeit schwankte in 80 Meter Höhe von nasskalt zu heiß und trocken.
„Zeitkapsel“ soll Rätsel um Turmerbauung lösen
Was auf den Pergamentpapierseiten in fein säuberlicher Handschrift geschrieben steht, das wollen die Chorherren des Stifts jetzt unter Aufsicht von Historikern analysieren. „Von der ‚Zeitkapsel‘ erhoffen wir uns schriftliche Dokumente über die Errichtung der beiden Turmkreuze, zum Beispiel über den Architekten, und wer die Firma war, die damals die Kreuze errichtet hat“, erklärt Chorherr Anton Höslinger. Im August sollen die historischen Analysen abgeschlossen sein, dann werde man mehr wissen.
Die beiden Kirchturmkreuze werden unterdessen aufwendig restauriert. Wind und Wetter haben sie in den vergangenen 150 Jahren gezeichnet, Teile sind abgesprungen oder haben sich verschoben. Ein erstes Geheimnis über die Bauart der Türme konnten die Kirchturmspengler bereits jetzt lösen: Die Kreuze sind nicht wie üblich als Ganzes auf den Turm aufgesteckt worden. „Dafür waren sie zu schwer“, erklärt Sukup. Vielmehr sei der vertikale Eisendorn in den Turm mit eingebaut worden. Erst ganz zum Schluss seien der Querbalken und die Verzierungen händisch angebracht worden – das alles ohne moderne Hilfsmittel und in 80 Meter Höhe. Wie genau das möglich war, darauf gibt vielleicht die ‚Zeitkapsel‘ eine Antwort.