Simon Rattle
Oliver Helbig
Oliver Helbig
Kultur

Grafenegg: Zwei Abende mit Simon Rattle

Kommenden Freitag und Samstag tritt das London Symphony Orchestra unter seinem Musikdirektor Simon Rattle beim Grafenegg Festival auf. Für die Aufführung des Orchesters gibt es nur mehr einige Rasenplätze. Zudem steht auch eine Premiere am Programm.

„Sie sind in Person leibhaftige Werbung für die Musik, die Sie mit Ihren Orchestern lebendig werden lassen“. So beschrieb der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Musikdirektor des London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle (im Bild oben), der ab 2023 Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks wird, als er ihn im Februar 2022 mit einem der höchsten Orden des Landes auszeichnete.

Der Brite war von 2002 bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Steinmeier verwies auch auf Rattles Beliebtheit in Berlin, beim Publikum und bei den Musikern: „Auch deswegen, weil Sie von Anfang an nicht als der große Allesbestimmer aufgetreten sind und auch nicht als der klassische Pultdiktator, sondern sich immer als Teamspieler, wenn auch mit einer besonderen Rolle, gesehen haben.“

Kein „klassischer Pultdiktator“

„Kein klassischer Pultdiktator“: Das scheint auch eines der Charaktermerkmale des Dirigenten zu sein. Rattle, Jahrgang 1955, studierte an der Royal Academy of Music, war 1977 der jüngste Dirigent beim Glyndebourne Opernfestival, 1980 wurde er Erster Dirigent beim City of Birmingham Symphony Orchestra, dessen Chefdirigent er von 1990 bis 1998 war und das unter ihm zu einem Orchester von internationalem Rang wurde.

Von 2002 bis 2018 war er – Nachfolger von Claudio Abbado – künstlerischer Leiter und Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, im September 2017 übernahm er von Valerij Gergiev die Position des Musikdirektors des London Symphony Orchestra (bis 2024). Ab der Spielzeit 2023/24 geht er als Chefdirigent des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks nach München.

London Symphony Orchestra
Ranald Mackechnie
Das London Symphony Orchestra gastiert am 26. und 27. August in Grafenegg

Das London Symphony Orchestra wurde 1904 gegründet und zählt heute zu den besten Orchestern der Welt, mit Musikdirektor Sir Simon Rattle, den Gastdirigenten Gianandrea Noseda und François-Xavier Roth sowie Ehrendirigent Michael Tilson Thomas. 2021 wurde bekanntgegeben, dass Sir Antonio Pappano ab September 2024 die Funktion des Chefdirigenten übernehmen wird. Das LSO ist im Barbican Centre in der City of London beheimatet.

„Sun Poem“ ist erstmals in Österreich zu hören

Auf dem Programm des Konzerts im Wolkenturm am Freitag stehen fünf Werke: Die Ouvertüre „Le Corsaire“ von Hector Berlioz, die österreichische Erstaufführung von „Sun Poem“ von Daniel Kidane, Maurice Ravels „La Valse“, die Symphonie Nr. 7 in C-Dur von Jean Sibelius und als Schluss Bela Bartoks Konzertsuite „Der wunderbare Mandarin“.

Daniel Kidane wurde 1986 in London geboren. Er studierte Komposition am Royal Northern College of Music, an der Guildhall School of Music and Drama promovierte er. Kidane zeichnete sich mit mehreren Orchester-, Kammermusik- und Vokalwerken als herausragender Komponist aus: Seine Musik wurde in „The Times“ als „straff konstruiert und äußerst vibrierend“ und in den „Financial Times“ als „eindrucksvoll ruhig“ bezeichnet.

Vom London Symphony Orchestra kam – gemeinsam mit dem San Francisco Symphony Orchestra — der Auftrag zu Daniel Kidanes jüngstem Orchesterwerk, „Sun Poem“, das am 18. August 2022 beim Edinburgh International Festival mit dem London Symphony Orchestra unter Sir Simon Rattle seine Uraufführung erlebte.

Wolkenturm, Abenddämmerung
Andreas Hofer
Der Komponist Daniel Kidane: „Wenn man das Raunen hört, mit dem ein Schwarm von Staren sich als Gruppe bewegt — mit diesem Bild könnte ich am ehesten beschreiben, wie die Musik in- und auseinander fließt“

Daniel Kidane: “Wie ein Schwarm von Staren am Himmel“

Inspiriert zu seinem neuen Werk wurde Kidane durch das Gedicht „Sun Poem“ des karibischen Dichters Kamau Brathwaite. „In diesem Gedicht wird die Idee von Erbe und väterlicher Abstammungslinie erforscht“, sprach Kidane auch ein ganz persönliches Interesse an diesem poetisch ausgedrückten Thema an: „Letztes Jahr habe ich meinen Vater verloren — er ist an Krebs gestorben — und dieses Jahr wurde ich selbst Vater.“

Die Komposition wurde somit zu einer Forschungsreise für ihn, „wie ich mein Vatererbe betrachte und in welchem Zusammenhang es mit meinem Vatersein steht.“ Das Werk soll „die Reise in die Vaterschaft widerspiegeln, bis zu dem Punkt, wo das neugeborene Wesen in die Welt kommt.“ Was auch schon in vorangegangenen Kompositionen für Kidane von Bedeutung war, ist für den in London Geborenen, dessen Vater aus Eritrea und dessen Mutter aus Russland stammt, die „Frage nach Erbe und Herkunft“.

Interessant sei Kidanes eigene Art der Melodieformung, schreibt Rainer Lepuschitz im Programmheft: „Sie wird nicht linear geführt, sondern durch die Aneinanderreihung von Rhythmen und Strukturen, die in wiederum andere Teilstücke übergehen.“ Daniel Kidane: „Wenn man einen Schwarm von Staren am Himmel sieht und das Raunen hört, mit dem sie sich als Gruppe bewegen — mit diesem Bild könnte ich am ehesten beschreiben, wie die Musik in- und auseinander fließt.“ 

Gustav Mahler, der „König der Revolutionäre“

Am Samstag ist im Wolkenturm Gustav Mahlers Symphonie Nr. 2 in c-Moll zu hören. Bei der zwischen 1888 und 1894 entstandenen „Auferstehungssymphonie“ steht der Wiener Singverein (Choreinstudierung: Johannes Prinz) auf dem Podium, es singen Louise Alder und Dame Sarah Connolly. Johannes Brahms bemerkte nach der Uraufführung 1895 — durchaus nicht unkritisch, wie man annehmen darf: „Bisher glaubte ich, dass Richard Strauss das Haupt der Umstürzler sei, nun sehe ich aber, dass Mahler der König der Revolutionäre ist.“

Grafenegg Wolkenturm
ORF.at/Gerald Heidegger
Für die beiden Konzerte mit Simon Rattle beim Grafenegg Festival gibt es noch Rasenplätze

„Eine wild auffahrende, dann jäh abstürzende Figur der Bässe eröffnet diese Symphonie. Der schroffe, raue Atem des Themas scheint den orchestralen Sturm von Richard Wagners ‚Walküren‘-Vorspiel in wenigen Takte zu verdichten und zu radikalisieren. Mit beinahe schockhafter Geste wird eine imaginäre Szenerie eröffnet, als risse die Musik einen Schleier fort. Die weiteren Motive und Themen tauchen in dieser Landschaft wie Protagonisten eines dramatischen Geschehens auf: Bläsersignale und Marschrhythmen, geheimnisvoll in sich kreisende Beschwörungsgesten und aufschrillende Schreckenstöne, ein lyrisches Violinenthema, ein marschähnlicher Choral und das gregorianische ‚Dies irae‘-Motiv“, so Julia Spinola im Programmheft über Mahlers 2. Symphonie.

Mahlers Zweite über die Frage „Warum leben?“

Mehrfach äußerte sich Mahler zu Idee und Programm seiner Zweiten. Bereits drei Tage vor der Trauerfeier für den Dirigenten Hans von Bülow schrieb er im Frühjahr 1894 an den Komponisten und Kritiker Max Marschalk: „Warum hast du gelebt? Warum hast du gelitten? Wir müssen die Fragen auf irgendeine Weise lösen, wenn wir weiter leben sollen — ja sogar, wenn wir weiter sterben wollen! In wessen Leben dieser Ruf einmal ertönt ist — der muss eine Antwort geben; und diese Antwort gebe ich im letzten Satz.“

Später freilich habe sich Mahler von allen Programmen distanziert, weil er bemerkte, dass diese dem Verständnis des genuin musikalischen Ausdrucks seiner Kompositionen eher im Weg stünden, so die deutsche Musikjournalistin Julia Spinola. Dem Kritiker Max Marschalk schrieb Mahler: „Bei der Konzeption meiner Werke war es mir nie um Detaillierung eines Vorganges, sondern höchstens einer Empfindung zu tun.“