„Ganz Persönlich“

„Immer mehr Menschen brauchen Hilfe“

Caritas-Generalsekretär Christoph Riedl geht davon aus, dass ein schwieriger Herbst und Winter kommen könnte. Er spricht im „Ganz Persönlich“-Interview mit Eva Steinkellner über Heizkosten, Solidarität und Angst.

Christoph Riedl ist seit 2021 Caritas-Generalsekretär für die Diözese St. Pölten. Der 44-Jährige war bis 2018 beim ORF beschäftigt, unter anderem moderierte er die Religionssendung „Orientierung“. Riedl ist geschieden und lebt in Wien.

noe.ORF.at: Wissen Sie, was ein Packerl Butter kostet?

Christoph Riedl: Da gab es eine enorme Preissteigerung. Wir sind bei drei oder teilweise sogar vier Euro.

noe.ORF.at: Das illustriert ganz gut die Preissteigerungen der letzten Zeit, auch die Energiepreise steigen. Was kommt im Herbst auf uns zu?

Riedl: Es wird eine herausfordernde Zeit. Die Coronaviruskrise ist noch nicht ganz vorbei und jetzt kommt die Teuerungswelle dazu. Es wird für viele Menschen in ganz Österreich sehr herausfordernd. Da reden wir nicht nur davon, dass man ein oder zwei Grad weniger einheizt, sondern ob man sich das Einheizen überhaupt noch leisten kann.

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Riedl im Gespräch mit Eva Steinkellner-Klein

noe.ORF.at: Die Regierung versucht mit Einmalzahlungen, etwa in Form einer Sonder-Familienbeihife oder eines Teuerungsausgleichs, gegenzusteuern. Reicht das?

Riedl: Jede Maßnahme, die dazu beiträgt, die Armut zu lindern, ist wichtig und notwendig. Mittel- und langfristig brauchen wir aber eine Erhöhung der Sozialhilfe. Die Preise werden nicht mehr sinken.

noe.ORF.at: Da gibt es ja Pläne. Im Jänner sollen die Sozialleistungen an die Inflation angeglichen werden.

Riedl: Die Frage ist, ob Jänner reicht. Ich glaube, es braucht schneller Maßnahmen für Menschen, denen eine Armutsspirale droht. Eine solche entsteht langsam, indem man Schulden aufbaut, die man nicht mehr zurückzahlen kann, weil man keine Rücklagen mehr hat. Dann beginnt man beim Einkaufen jeden Euro zweimal umzudrehen. Diese Maßnahmen der Regierung brauchen wir daher jetzt im Herbst.

noe.ORF.at: Der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat den vielzitierten Satz gesagt: ‚Wir werden alle ärmer werden.‘ Ist das so?

Riedl: Ich verwende lieber den Begriff ‚Wohlstandsverlust‘. Ich glaube, wir alle müssen mit einem Wohlstandsverlust rechnen. Wohlstand ist sehr individuell, das ist beispielsweise ein Abendessen oder einmal im Quartal ein Kinobesuch oder Urlaub. Jeder von uns wird einen Verlust hinnehmen müssen. Wir werden alle gefragt sein, uns zu überlegen, wofür wir unser Geld künftig verwenden wollen.

noe.ORF.at: Da geht es für viele zunächst um Verzicht. Jetzt könnte man provokant fragen, was ist so schlimm, wenn ich nicht mehr so oft ins Kino kann?

Riedl: Wir kommen in eine Zeitenwende, sichtbar dadurch, dass die Generation in den 80er- und 90er-Jahren sagen konnte, meinen Kindern soll es einmal besser gehen. Das ist ein ganz starker, verständlicher Satz. Jetzt leben wir in einer Zeit, in der das nicht so sicher ist. Es ist enorm schwer, das zu realisieren und Schlüsse daraus zu ziehen. Wir sind es gewohnt, im Überfluss zu leben, in einem System, in dem wir uns vieles leisten können. Das verändert die Gesellschaft.

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„Wir kommen in eine Zeitenwende“, sagt Caritas-Generalsekretär Riedl

noe.ORF.at: Schon in der Coronaviruskrise hat sich gezeigt, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht. Was macht das mit einer Gesellschaft?

Riedl: Caritas-Präsident Landau hat gesagt, es sei genug für alle da, nur nicht für jedermanns Gier. Es kann nicht sein, dass einige viel mehr haben und eine große Gruppe immer weniger. Das ist nicht gut für eine Gesellschaft und unser Land. Das zeigen ja auch Aussagen von wohlhabenden Leuten, die etwas beitragen wollen, die solidarisch handeln. In der Ukraine-Krise haben etwa viele Wohnraum zur Verfügung gestellt, weil sie etwas geben und die Krise miteinander bewältigen wollen.

noe.ORF.at: Wird die aktuelle Krise auch die Mittelschicht treffen?

Riedl: Ja. Wir sehen es dort, wo Menschen bei der Caritas anklopfen und sagen, sie hätten nie gedacht, dass sie einmal die Hilfe der Caritas in Anspruch nehmen. Wir sehen es in unseren Sozialberatungsstellen. Heuer sind um ein Drittel mehr Menschen gekommen, die noch nie bei der Caritas waren. Es ist gut, dass sie kommen, das sage ich gleich dazu. Denn wir können mit unseren Sozialarbeitern Tipps geben, um zu verhindern, dass man in eine Armutsspirale kommt.

noe.ORF.at: Die Caritas war ja auch in der Ukraine-Krise sehr engagiert, etwa in der Unterbringung der vielen Geflüchteten. Wie ist die Lage momentan?

Riedl: Aus Sicht der Caritas hat sich die Lage beruhigt. Die große Fluchtbewegung im März oder Mai hat sich abgeflacht. Wir sehen einen großen Unterschied zur Fluchtbewegung 2015/16, als viele Menschen aus Syrien oder Afghanistan zu uns gekommen sind, mit dem klaren Wunsch zu bleiben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen wieder zurück. Hier ist unser Bemühen zur Integration durchaus unterschiedlich.

noe.ORF.at: Sie haben viele Jahre beim ORF gearbeitet, in ganz unterschiedlichen Bereichen, etwa im Wirtschaftsressort oder im Auslandsressort. Aus dem Fernsehen kennt man Sie als Moderator der TV-Sendung ‚Orientierung‘. Warum der Wechsel?

Riedl: Es hat mich gereizt, aktiv Menschen helfen zu können. Ich fühle mich enorm privilegiert, von einem Job beim ORF, den ich sehr gern gemacht habe, in einen anderen Job zu wechseln, der mir jetzt auch sehr viel Spaß macht.

noe.ORF.at: Das christlich–katholische Umfeld haben Sie nie ganz verlassen. Sie waren in jungen Jahren Bundesgeschäftsführer der Jungschar Österreich. Wie wichtig ist Ihnen Glaube und Religion?

Riedl: Ich bin wie viele Österreicher katholisch sozialisiert worden. Ich war bei der Jungschar und habe viele schöne Erinnerungen daran – ein Gefühl der Gemeinschaft, der Werte, das hat mich geprägt. Es stimmt, dass mich der Glaube und die Kirche mein ganzes Berufsleben begleitet haben, auch bei meiner Arbeit im ORF. Wobei ich darauf Wert lege, dass man als Journalist eine kritische Distanz wahrt.

noe.ORF.at: Vor dem kommenden Winter fürchten sich einige, weil sie Angst haben, die Rechnungen nicht mehr stemmen zu können. Müssen wir Angst haben?

Riedl: Ich verstehe es, aber ich glaube, dass man sagen kann, dass wir in Österreich ein gutes Sozialsystem haben, viele gute Hilfsorganisationen, die im Notfall da sind. Ich glaube, dass es einen guten Grundwasserspiegel der Nächstenliebe in Österreich gibt. Auf das darf man vertrauen.

noe.ORF.at: Wie wird unser Leben in einem Jahr ausschauen?

Riedl: Das ist ganz schwer zu sagen. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es die Caritas noch geben wird. Der ehemalige Präsident Franz Küberl hat einmal gesagt, das Ziel müsse sein, dass die Caritas einmal nicht mehr notwendig sei, dass wir uns quasi abschaffen. Ich fürchte, das wird es nicht spielen. Ich glaube, dass die Angebote gebraucht werden und dass die Caritas die Stimme all jener ist, die in der Gesellschaft keine Stimme haben.