Kultur

Sorokin als Ehrengast bei „Literatur im Nebel“

Wladimir Sorokin ist Ehrengast der am Freitagabend startenden 15. Ausgabe von „Literatur im Nebel“ in Heidenreichstein (Bezirk Gmünd). Mit dem Ukraine-Krieg avancierte er zu einem der politisch aktuellsten russischen Schriftsteller.

Er gilt nicht nur als einer der wichtigsten russischen Schriftsteller der Gegenwart, zunehmend wirken manche seiner Texte auch wie Prophetien, in denen er Russlands neuen Totalitarismus literarisch vorwegnahm. In seiner Heimat war er bereits kurz nach Wladimir Putins Machtübernahme für seine Visionen angefeindet worden.

Lange vor Politikexperten hatte er bereits 2006 in „Der Tag des Opritschniks“ (am Samstag ab 20.30 Uhr in Heidenreichstein auf dem Programm) eine Antiutopie skizziert, die zuletzt immer häufiger mit der nunmehrigen Realität des Putinismus verglichen wurde.

Schlüsselroman erzählt von Terrorregime

Dieser Schlüsselroman erzählt von einem Terrorregime in einer nahen Zukunft, das eine schwer korrupte Geheimpolizei in einem durch eine „Große Russische Mauer“ von der Außenwelt abgetrennten Russland errichtete. Diese „Opritschniks“, die sich in der Tradition der ersten Geheimpolizei unter Iwan dem Schrecklichen begreifen, gerieren sich als tiefgläubige Christen, plündern jedoch gleichzeitig und vergewaltigen. Und brüllen dabei just jenen altrussischen Kampfruf „Gojda!“, dessen Verwendung der Schauspieler und Propagandist Iwan Ochlobystin Anfang Oktober 2022 in einer programmatischen Rede am Roten Platz gefordert hatte.

Patrioten hätten seinerzeit 2006 verlangt, dass sich Russland vom Westen isolieren solle, und er habe entschieden, eine Fantasie darüber zu schreiben, was dann passieren würde, erzählte Sorokin im Juni in einem Interview mit den „Financial Times“. „Die Leute haben anfänglich mit Humor darauf reagiert, aber dann haben sie zu lachen aufgehört“, sagte der erklärte Kriegsgegner. Laut der Zeitung hat er kurz vor dem 24. Februar sein Heimatland verlassen und denkt einstweilen nicht an eine Rückkehr.

Sorokin zu Beginn literarischer Geheimtipp

Sorokins breite Rezeption war nicht immer zu erwarten gewesen. Lange Zeit hatte der 1955 außerhalb von Moskau geborene Erdöltechniker vor allem als literarischer Geheimtipp gegolten: Bedingt durch eine Sozialisierung im Moskauer Konzeptualismus der 80er Jahre war er in seiner Heimat anfänglich vor allem in der Kunstszene und von ausländischen Slawisten wahrgenommen worden.

Auch frühe und mutige Veröffentlichungen änderten an diesem Umstand nichts. Als die in Paris von sowjetischen Emigranten herausgegebene Kunstzeitschrift „A-Ja“ 1985 gleich mehrere Texte Sorokins abdruckte und im selben Jahr ebenso in Paris auf Russisch sein sozialkritischer Roman „Die Schlange“ erschien, war das auch ein politisches Statement: Zum damaligen Zeitpunkt konnte Sorokin nach derartigen Publikationen im Ausland bei sich zu Hause in der Sowjetunion kaum mehr mit einer Karriere als Schriftsteller rechnen.

In ihrer Radikalität war seine postmoderne Prosa freilich von Anfang an mit dem staatlich kontrollierten Literaturbetrieb der Sowjetunion inkompatibel gewesen. Aber selbst in „A-Ja“ ersuchte man 1985 noch um Verständnis: „Wir wollen hoffen, dass das Werk von W. Sorokin vom Leser nicht als antihumanes und verächtliches Lachen über die stets schuldige Menschheit verstanden wird, sondern eher als fröhliches Spiel eines erzählenden Geists an der Grenze des ästhetisch Zulässigen“, kommentierte damals ein anonymer Autor in der Exilzeitschrift.

Neue Möglichkeiten mit Ende der Sowjetunion

Mit dem unerwarteten Ende der Sowjetunion wenige Jahre später boten sich neue Möglichkeiten: Frühere Romane konnten endlich auch in Russland verlegt werden. Sorokin konnte nun problemlos ins Ausland reisen, wo nicht nur seine Romane verlegt wurden, sondern er mit Dramatisierungen auch Erfolge auf deutschsprachigen Theaterbühnen feiern konnte. Insbesondere galt das für Stücke, die sich wie „Ein Monat in Dachau“ auch mit der NS-Vergangenheit Deutschlands beschäftigten. Gleichzeitig behandelten ihn relevante Nachschlagewerke noch Ende der Neunzigerjahre als vergleichsweise marginalen Schriftsteller.

Die beginnende Ära von Wladimir Putin sorgte um die Jahrhundertwende für einen Wandel: Nachdem sich der 1999 veröffentlichte Roman „Der himmelblaue Speck“ (am Freitag ab 20 Uhr auf dem Programm) auch in Russland vergleichsweise gut verkauft hatte, brachte ihm eine Kampagne der kremlnahen Jugendorganisation „Die gemeinsam Gehenden“ 2002 auch internationale Schlagzeilen ein. Fans von Präsident Putin hatten dem Schriftsteller im Zusammenhang mit diesem Roman Pornografie vorgeworfen. Sorokin hatte sich in „Der himmelblaue Speck“ über die russische Literatur lustig gemacht, aber auch eine alternative Wirklichkeit beschrieben, in der Josef Stalin nicht nur mit seinem Liebhaber Nikita Chruschtschow kopuliert, sondern auch mit seinem Freund Adolf Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.

Sorokins Werk könnte verboten werden

Die Aktivitäten der von Kritikern als „Putin-Jugend“ bezeichneten Aktivisten hatten zwar nach 2002 dazu geführt, dass die russischen Auflagen von Sorokins Büchern um einen Faktor zehn bis 15 stiegen, politische Bemühungen, die Wiedererrichtung eines totalitären Staates zu beschleunigen, waren damals jedoch noch nicht von Erfolg gekrönt.

Erst 20 Jahre später scheinen sich ihre Wünsche erfüllt zu haben: Die russische Staatsduma dürfte in den nächsten Tagen ein generelles Verbot von „LGBT-Propaganda“ beschließen, das die Verbreitung von „Der himmelblaue Speck“ zu einem Verwaltungsdelikt machen könnte. Denn wenn in dem Buch Vertreter der Staatsspitze gleichgeschlechtlichen Sex haben, wäre das wohl eine hinkünftig untersagte Verbreitung einer „verzerrten Vorstellung von der gesellschaftlichen Gleichwertigkeit zwischen traditionellen und nicht traditionellen sexuellen Beziehungen“.