Wladimir Sorokin Literatur im Nebel
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Kultur

Literatur im Nebel: Welt ist „unvorhersehbar“

Der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin ist heuer Gast beim Festival Literatur im Nebel in Heidenreichstein gewesen. Der Kritiker des russischen Regimes sprach von einer „unvorhersehbaren“ Welt und betonte, bis Ende des Krieges „bleibt die Literatur stumm“.

Wladimir Sorokin war Ehrengast beim diesjährigen Festival Literatur im Nebel in Heidenreichstein (Bezirk Gmünd), das am Freitagabend eröffnet wurde. Die Welt sei derzeit „völlig unvorhersehbar“, stellte Sorokin fest, der seit Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine in Berlin lebt.

Gleich zu Beginn der Veranstaltung wurde allerdings einem anderen Autor Reverenz erwiesen, der im Jahr 2006 als erster Gast des Festivals in Heidenreichstein zugegen war: Mit minutenlangen Standing Ovations erging ein Videogruß an Salman Rushdie, der im August dieses Jahres bei einem Messerattentat in New York schwer verletzt worden war.

Russland ist „geschaffen für Kritik“

Dann ging es in medias res: Aus Werken Sorokins lasen Elisabeth Orth, Robert Stadlober, Jan Bülow, Susi Stach und Karl Fischer. Der Politikwissenschaftler Jens Siegert, Autor des Buchs „111 Gründe, Russland zu lieben“ und ehemaliger Leiter des Moskauer Büros der Heinrich-Böll-Stiftung, brach eine Lanze für ein Land, dessen Bevölkerung man nicht mit dem gegenwärtigen Regime gleichsetzen solle, zumal man auch nach Kriegsende mit Russland zu tun haben werde. Das romantische Klischee der russischen Seele sei wirkmächtig, aber ebenso ambivalent wie das Verhältnis Russlands zu Europa und zur Demokratie, erklärte Siegert.

Wladimir Sorokin Literatur im Nebel
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Im Gespräch mit Bettina Hering, Dramaturgin des Festivals und Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele, erläuterte Sorokin seine literarische Arbeit im Kontext mit den politischen Verhältnissen. Auf die Frage, ob Kritik als Antrieb seines Schreibens angesehen werden könne, antwortete er, Russland sei für Schriftstellende ein „Eldorado, geradezu geschaffen für Kritik“. Die „Konzentration des Grotesken“ sei so hoch, dass man gar nichts erfinden müsse. Putins Präsenz jedoch bedeute eine tägliche Steigerung des Grotesken, erschreckender als jede Satire, es sei unmöglich geworden, ihn literarisch zu beschreiben.

„Wir hoffen auf Sieg der Ukraine“

Den heutigen Zustand in Russland verglich Sorokin mit einer „steckengebliebenen sowjetischen Schallplatte, wo immer das gleiche stalinistische Lied ertönt“. Nun müsse man warten, bis die Nadel abbricht oder das Grammofon kaputt wird. Vieles entscheide sich heute nicht an den Computerschreibtischen, sondern auf den „Schlachtfeldern in der Ukraine. Wir hoffen auf den Sieg der Ukraine.“ Bis dahin finde die Realität „in normaler linearer Prosa keinen Platz“, so Sorokin, der auch der Ansicht ist, es brauche eine „neue literarische Optik, um die Gegenwart gründlich zu betrachten“.

Nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Etwa auf jene, wie sein Schreiben zustandekommt. Das sei „im Prinzip nicht erklärbar“, sagte Sorokin, um dann doch einen weiteren Vergleich zu ziehen: „Es akkumuliert sich etwas, eine Art Sperma.“ Doch „seit Beginn dieses monströsen Kriegs“ schreibe er – abgesehen von publizistischen Texten und vielleicht Drehbüchern – nicht mehr: „Romane über Kriege entstehen immer nach den Kriegen.“ Was er derzeit erreichen will? Einen erfolgreichen Aufritt bei Literatur im Nebel, lautete die schlagfertige Antwort des Autors, der soeben von einer Lesereise in den USA zurückgekehrt war.

Die zweitägige Veranstaltung in Heidenreichstein ging am Samstag mit weiteren Lesungen zu Ende. Dabei wirkten u. a. die Schauspielerin Bibiana Beglau, Bachmann-Preisträgerin Ana Marwan und der Literaturwissenschaftler Dirk Uffelmann mit.