Carl Michael Ziehrer
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Kultur

Letzter Walzerkönig starb vor 100 Jahren

Sein berühmtester Walzer ist vermutlich „Hereinspaziert“: Carl Michael Ziehrer schrieb mehr als 600 Tänze und mehr als 20 Operetten. Der letzte Hofballmusikdirektor und letzte Walzerkönig neben Johann Strauß starb am 14. November 1922 verarmt in Wien.

Vor dem Ersten Weltkrieg, der den künstlerischen wie finanziellen Niedergang des Komponisten und Kapellmeisters Carl Michael Ziehrer (1843-1922) einläutete, lebte der Musiker in Baden bei Wien in einem Schönbrunner Gelb gefärbten Haus in der Nähe des Bahnhofes. Hier verbrachte er sehr glückliche und produktive Jahre. Im Nachbarhaus wohnte kein geringerer als Carl Millöcker, der von vielen neben Johann Strauß und Franz von Suppe ebenfalls zur „goldenen Zeit“ der Wiener Operette gezählt wird.

„In diesem Haus hat er sich sehr wohl gefühlt, hier hat er auch seinen 70. Geburtstag gefeiert. Viele seiner Operetten sind in diesem Haus entstanden, die wohl wichtigste aus dieser Zeit heißt ‚Die feschen Geister‘, erklärt Franz Neuwirth, Archivleiter der Bühne Baden und Mitglied der „Wiener internationalen Operettengesellschaft“ (WIOG) mit Sitz im Schloss Traismauer (Bezirk St. Pölten).

Wohnhaus Ziehrers
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Der Komponist wohnte vor dem Ersten Weltkrieg in diesem Haus in Baden

Meister der Tanz- und Marschmusik

Von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren Polkas, Märsche, Mazurkas und vor allem die Walzer „Hits“ ihrer Zeit. Sie wurden in großen und kleinen Besetzungen gespielt und in Häusern der gutbürgerlichen Gesellschaft gerne am Klavier gespielt, denn Radio gab es noch keines, dafür aber mehr als 200 Klavierbauer allein in Wien. Sehnsüchtig erwartete das Publikum die neuesten Werke, pfiff und sang nach Veröffentlichung die Melodien auf der „Gassn“.

In diesem Ambiente konnte der gelernte Hutmacher Carl M. Ziehrer dank seines Gönners, dem Verleger Carl Haslinger, bereits als junger Mann reüssieren. Haslinger vermittelte dem 19-Jährigen als Lehrer den Komponisten Johann Emanuel Hasel. Hasel überließ dem jungen aufstrebenden Talent einige Kompositionen. Ziehrer machte mit Märschen und Walzern Geld und Karriere. Er war Kapellmeister des 4. k. und k. Infanterieregiments und letzter Hofballkapellmeister der Habsburger-Monarchie.

Michael Garschall
©Mark Glassner
Michael Garschall

Ziehrer versuchte in späteren Jahren diese „Schenkungen“ zu vertuschen. Franz Neuwirth gibt in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass auch bei Johann Strauß nicht alles Johann Strauß sei, was unter dessen Namen erschien. Selbst in dessen bekanntester Operette „Die Fledermaus“ stammen etliche Musikstücke vom Librettisten Richard Genee. Es war eine frühe Form der Musikindustrie, erklärt dazu Michael Garschall, der Intendant der Blindenmarkter Herbsttage, der die Pflege der Operette hochhält.

Musik-handwerkliche Meisterschaft

Sieht man sich die Partituren und Klavierauszüge allein der mehr als 20 Operetten Carl Michael Ziehrers an, so kann man darin erkennen, dass die Arrangements und harmonischen Abfolgen dieser Werke von hoher musik-handwerklicher Meisterschaft gekennzeichnet sind. „Das ist eben die große Kunst, dass diese Werke auf der einen Seite sehr anspruchsvoll und schwierig sind und auf der anderen Seite für das Publikum leicht und unterhaltsam über die Rampe kommt“, erklärt Archivleiter Neuwirth.

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Carl Michael Ziehrer, Noten
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Aus Ziehrers Feder stammen rund 600 Tänze und 23 Operetten
Carl Michael Ziehrer, Noten und Schallplatten
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Seine Karriere führte ihn von Wien nach Berlin. Als Kapellmeister kam er durch ganz Europa und nach Chicago (USA).
Carl Michael Ziehrer, Noten
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1907 wurde Ziehrer zum vierten und letzten Hofballmusikdirektor ernannt

Im Archiv der WIOG im Schloss Traismauer lagern hunderte Partituren, Orchesternoten und Klavierauszüge der namhaftesten Operettenkomponisten, die alle noch nicht aufgearbeitet, geschweige denn aufgeführt wurden. Da gäbe es genug Schätze zu bergen. Warum werden stets die gleichen zehn Operetten-Hits gezeigt? Warum stürzen sich die Regisseure und Intendantinnen von Hamburg bis Wien nicht auf die unbekannten, rohen Diamanten?

Operette gegen Musical – ein Kampf der Moden

Das läge zum Großteil an der Änderung der Mode, des Geschmacks, ergänzt Neuwirth. Das Musical habe die Operette verdrängt. Man habe in den 60er- und 70er-Jahren beim Versuch, das Genre zu retten, den Fehler begangen, die Operette mit opulenter Plüsch-Ausstattung und oberflächlicher Show-Zerschnipselung einzelner „Nummern“ eigentlich zu verharmlosen, erläutert Intendant Michael Garschall. Die Operette sei in ihrem Kern frech und subversiv.

Grab Ziehrer
Ziehrer starb 1922 und wurde am Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab bestattet

Fragwürdige Operetteneinteilung

Was der Operette nach dem Zweiten Weltkrieg auf jeden Fall geschadet habe, sei die stark zu hinterfragende Einteilung in eine goldene, silberne und bronzene Ära. Diese Einteilung gehe auf die Zeit der Nationalsozialisten zurück, in der man Werke jüdischer Autoren, Komponisten oder Textdichter diskreditieren wollte. Denn selbst in der Operetten-„Massenproduktion“ im 19. Jahrhundert ist nicht alles Gold, was glänzt.

Im steifen Sturm der heutigen Zeit hat es das kleine Boot der Walzer- und Operettentradition nicht leicht zu bestehen. Es werde zwar hin und wieder bei Neujahrskonzerten mit Ziehrerstücken im Musikland Österreich geglänzt, doch eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Werke von Lanner, Strauß, Ziehrer und anderer Komponisten hat entweder noch nicht begonnen oder ist längst nicht abgeschlossen. Dass ein aktuelles Buch zu Carl Michael Ziehrers 100. Todestag vom britischen Autor John Diamond auf Englisch herausgebracht wurde, ist bezeichnend – und, dass in Mörbisch demnächst „Mamma Mia“ gezeigt wird auch.