Ulrich Seidl
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Kultur

Filmprovokateur Ulrich Seidl ist 70

Seine Filme passen in keine Schublade: Regisseur Ulrich Seidl feiert am Donnerstag seinen 70. Geburtstag. Im Gespräch mit noe.ORF.at spricht er über den Film als Sittenbild, ein nicht umgesetztes Drehbuch und die Vorwürfe zu seinem jüngsten Film „Sparta“.

Mit der Dokumentation „Good News“ (1990) machte Ulrich Seidl (geboren 1952 in Wien und aufgewachsen in Horn) erstmals ein größeres Publikum auf sich aufmerksam, spätestens seit „Hundstage“ (2000) ist er international bekannt. Im Spannungsfeld zwischen Fiktion und Realität geht es dem Regisseur um Wahrhaftigkeit sowie um existenzielle Fragen des Menschseins, wie nicht zuletzt die mehrfach ausgezeichnete „Paradies“-Trilogie (2012-2013) zeigte.

Aber Seidl berührt nicht nur, er rührt auch auf: „Im Keller" (2014) führte zum Rücktritt eines burgenländischen Gemeinderats, und während „Rimini“ (2022) mit dem Großen-Diagonale-Preis als bester Spielfilm ausgezeichnet wurde, wurde um den soeben erschienenen Film „Sparta“ vor allem Kritik laut. Es soll gegen die Kinderrechte minderjähriger Laienschauspieler verstoßen worden sein, so der Vorwurf. Noe.ORF.at hat Ulrich Seidl im Kinoclub Drosendorf (Bezirk Horn) getroffen, um mit ihm über die in diesem Zusammenhang geäußerten Vorwürfe, aber auch über Vergangenes und vielleicht noch Kommendes zu sprechen.

noe.ORF.at: Sie werden dieser Tage 70 – denkt man da schon darüber nach, was man der Welt hinterlässt?

Ulrich Seidl: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber natürlich beschäftigt es einen, wenn man 70 wird. Wie viele Filme werde ich noch machen können zum Beispiel? Oder wie viele Reisen werde ich noch machen können? Wie viele Bücher werde ich noch lesen können? Wie viele Frauen werde ich noch kennenlernen? Et cetera. Also man weiß, dass man sich in ein Alter hineinbewegt, wo man am Ende des Lebens ist.

noe.ORF.at: Der Vorteil des Films ist ja, dass er reproduzierbar ist, also eigentlich unvergänglich. Macht das den Film als Medium für Sie interessanter? Sie haben ja auch Theater gemacht.

Seidl: Aus diesem Grund mache ich nicht Filme. Beim Film dreht man die Szene so oft, bis sie nicht mehr besser geht. Und dann haben sie das auf ewig. Beim Theater probt man Szenen, die vielleicht großartig sind, und dann kommt die Premiere, und dann kommen Vorstellungen und dann ist es lange nicht mehr so gut. Das ist der große Unterschied. Insofern habe ich am Theater auch gelitten, weil oft die Qualität verlorengegangen ist.

Ulrich Seidl vor Kino
ORF / Viktoria Waldhäusl
Ulrich Seidl wurde 1952 geboren und wuchs in Horn auf. Heute ist er regelmäßig im Filmclub in Drosendorf zu Gast.

noe.ORF.at: Was bei Ihren Filmen so hängen bleibt, ist dieses nicht Definierbare, nicht Eindeutige, dieses Dazwischen zwischen Fiktion und Realität. Was ist Ihr Anspruch an den Film und was wollen Sie vermitteln?

Seidl: Mir geht es darum, dass der Zuschauer anders aus dem Kino hinausgeht, als er hineingegangen ist. Ich will ja, dass meine Filme etwas bewirken, und was sie bewirken, ist auch sehr unterschiedlich. Ich behaupte ja, dass jeder Zuschauer einen anderen Film sieht, obwohl alle denselben Film sehen – ganz speziell auch bei mir, weil der Zuschauer, wenn er sich ehrlich gegenübersteht, in eine Welt hineingezogen wird, wo er sich auch selber kennen sollte. Und deswegen berühren die Filme auch, im Guten wie im Negativen.

Die Filme sind ja auch so etwas wie ein Sittengemälde unserer Gesellschaft, unserer Zeit, unserer Welt und haben immer etwas Wahrhaftiges. Es geht um Einsamkeit zum Beispiel oder um die Sehnsucht nach Liebe, um Vergänglichkeit, um Tod oder überhaupt um den Sinn der Existenz und um den Kampf um ein würdiges Leben.

noe.ORF.at: Was inspiriert Sie dazu? Sind das persönliche Erfahrungen oder beobachten Sie das nur?

Seidl: Ich bin jedenfalls ein sehr guter Beobachter. Ich habe mich immer auch so ein bisschen außerhalb einer Gemeinschaft gefühlt. Und wenn ich die Dinge von außen beobachte, erkenne ich, was ich dem Zuschauer mitgeben oder womit ich ihn in Unruhe versetzen möchte. Meine Filme sind, auch wenn sie manchmal lustig sind, mehr als Entertainment. Von Entertainment gibt es ja genug. Es gibt viel zu wenige Filme, die zu Erkenntnissen führen.

noe.ORF.at: Das ist aber auch oft unangenehm für die Zusehenden.

Seidl: Meine Aufgabe als Filmemacher ist es, Dinge zu thematisieren und Dinge zu zeigen, die für uns wichtig sind, für unser Zusammenleben und für unsere Existenz. Die Frage ist nicht: Ist es für den Zuschauer angenehm oder unangenehm? Und wenn es für einen unangenehm ist, dann heißt es ja nichts anderes, als dass dieser Zuschauer oder diese Zuschauerin ein Problem mit etwas hat. Wenn ich zum Beispiel, was mehrmals in meinen Filmen vorgekommen ist, in einer Geriatrie drehe, dann gibt es Zuschauer, die sagen: „Das darf er nicht. Das geht nicht.“

Ich frage mich dann: Wieso sind alte Menschen, die dahinsiechen und meist völlig alleingelassen sind, nicht wert, gezeigt zu werden? Wer möchte denn die Grenzen festsetzen? Wer möchte denn sagen, was man zeigen darf? Ich finde, man darf alles zeigen, wenn man es ehrlich zeigt. Und wenn man den Menschen ihre Würde belässt. Und es ist sogar wichtig, ich finde, man muss hinschauen. Ohne Hinschauen verändert sich nichts. Mit Wegschauen werden die Dinge nicht besser.

Ulrich Seidl und Redakteurin Viktoria Waldhäusl
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ORF-NÖ-Redakteurin Viktoria Waldhäusl hat Ulrich Seidl zum Interview getroffen

noe.ORF.at: Oft wird kritisiert, dass sich Ihre Protagonistinnen so exponieren. Es wird in Frage gestellt, ob die Protagonisten das selber beurteilen können, ob sie das wollen oder nicht bzw. ob sie wissen, in welchem Licht sie dann stehen.

Seidl: Ich finde, das ist eine irrsinnig arrogante Haltung – also zu sagen, die Menschen, die vor meiner Kamera stehen, wissen nicht, was sie tun. Dass die Leute, die als Darsteller fungieren, dann zu mir kommen und sagen: „Aber das wollte ich nicht“, das gibt es bei mir so gut wie nicht, weil ich auch die Filme sehr lange vorbereite und ein sehr enges Vertrauensverhältnis aufbaue.

noe.ORF.at: Nach Ihrem Film „Im Keller“ (2014) sind zwei Gemeinderäte aus dem Burgenland zurückgetreten, weil sie feiernd in einem Keller voller NS-Devotionalien zu sehen waren. Fühlen Sie sich da verantwortlich bzw. haben Sie das antizipiert, dass der Film derartige Konsequenz haben könnte?

Seidl: Ich habe natürlich den Film „Im Keller“ nicht gemacht, um Leute zu denunzieren oder Leute ans Messer zu liefern, ganz und gar nicht. Ich stelle etwas dar am Beispiel dieser Menschen, die in diesem Keller zusammenkommen und unter dem Hitler-Bild ihre Gaudi machen. Das ist natürlich von mir nachinszeniert, aber nicht erfunden. Ich wusste nicht einmal, dass das Gemeinderäte sind. Nahezu alle in dieser Ortschaft wussten davon, und niemand hat was dabei gefunden – das ist eigentlich das, was ich zeigen will: Dass man es eh weiß, aber dass man das in manchen Orten in Österreich und in manchen Gesellschaftsschichten eh ganz normal findet.

noe.ORF.at: Wie haben Sie den Umgang der Öffentlichkeit mit Ihrem jüngsten Film „Sparta“ wahrgenommen? Hat das Ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit letztlich auch verändert?

Seidl: Die Anschuldigungen sind bis zum heutigen Tag nicht bewiesen. Alle Anschuldigungen kommen von anonymen Leuten. Die Kinder und die Eltern haben zu keinem Zeitpunkt Vorwürfe gegen mich erhoben. Die Dreharbeiten haben sich über ein ganzes Jahr gezogen – also wenn damals etwas vorgekommen wäre, hätten die Eltern ja schon längst ihre Kinder zurückgezogen oder mit mir eine Debatte angefangen, was auch immer. Und jetzt haben sie auch den Film gesehen und auch da gibt es keine Vorwürfe oder Vorhaltungen. Es sind alle mit dem Film einverstanden.

Also da wurden absichtlich, manipulativ und suggestiv Dinge in den Raum gestellt, die jeglicher Grundlage entbehren. Und das steht jetzt in der Welt. Das ist eine massive Rufschädigung gegen mich. Es war auch eine Zeit lang eine Gefahr einer existenziellen Vernichtung. Sodass man sich fragt: Wie kann man dann überhaupt noch weiter Filme machen? Diese Vorgänge schaden letztendlich der Filmbranche, überhaupt der Kunst und letztendlich dem demokratischen Empfinden.

noe.ORF.at: Wenn Sie jetzt zurückblicken, Sie haben fast 30 Filme gemacht: Gibt es da einige, die für Sie besonders wichtig waren?

Seidl: Eigentlich nicht, also ich habe kein Ranking. Ich arbeite so lange an einem Film, bis ich denke, ich habe jetzt alles ausgeschöpft, ich habe das Beste gemacht, was ich machen konnte. Im Nachhinein kann man immer sagen: „Na ja. Das war jetzt nicht so gut.“ Man hätte da etwas anders und besser machen können. Aber mit jedem Film wird wieder alles neu. Das ist ja das Schöne daran, dass die Aufgaben wieder neu werden, dass die Herausforderung eine neue ist und dass man sich neuen Menschen und anderen Milieus oder anderen Ländern zuwendet.

Ulrich Seidl
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Im Interview mit noe.ORF.at erzählt Ulrich Seidl von einem Film, dessen Drehbuch seit 30 Jahren in der Schublade liegt

noe.ORF.at: Gab es eigentlich Ideen oder Themen, die Sie nicht verwirklichen konnten, weil Sie den Zugang nicht bekommen haben?

Seidl: Es gibt ein großes Thema, das ich seit vielen Jahrzehnten machen wollte und vielleicht auch nicht mehr machen werde. Oder vielleicht doch? Ich weiß es nicht. Das Thema ist der Grasel (Anm.: in Anlehnung an den 1818 gestorbenen österreichischen Räuber Johann Georg Grasel). Ich habe vor 30 Jahren ein Drehbuch zu diesem Film geschrieben. Es geht um junge Menschen, die kriminell waren, weil sie nicht anders leben konnten, weil sie nur so ihre Würde bekommen haben. Es ist kein Kostümfilm und es würden auch keine großen Stars mitspielen. Bis dato ist der Film an der Finanzierung gescheitert.

Die Raubzüge des Grasel haben im Waldviertel stattgefunden, bis nach Böhmen hinein, und hier in dieser Gegend ist das sehr populär, natürlich ganz falsch dargestellt, weil er ist so ein Volksheld, ein Mensch, der sich gegen die Obrigkeit erhoben hat.

noe.ORF.at: Also der Robin Hood aus dem Waldviertel. Und ich nehme an, Sie werden da nicht Partei ergreifen und beurteilen, ob das richtig oder falsch ist, was der Grasel gemacht hat?

Seidl: Nein, sicher nicht. Geschichte ist vielschichtig. Das war eine Welt, in der unglaubliche Armut geherrscht hat. Ich bin mir sicher, dieses Bild der damaligen Welt kann man mit der heutigen Welt vergleichen. Nur damals war regional, was heute alles viel rigoroser und global zu sehen ist.