Gericht

Pflegemissstände: Angeklagte bestreiten Vorwürfe

Weil Bewohner in einem Pflegeheim in Kirchberg am Wechsel (Bezirk Neunkirchen) systematisch gequält geworden sein sollen, müssen sich seit Montag zwei Pflegekräfte sowie ein Manager vor Gericht verantworten. Sie bestreiten die Vorwürfe.

Das Gutachten umfasst mehr als 100 Seiten. Unter anderem wirft die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt den beiden Frauen das Vernachlässigen von wehrlosen Personen, dem Mann schwere Nötigung vor. Die Vorwürfe reichen von mangelnder Körperhygiene über das bewusste Streichen von Mahlzeiten bis zur Verweigerung von Harnkathetern.

Außerdem soll wochenlang nichts gegen den Ausbruch von Krätzmilben unternommen worden sein, obwohl die Pflegebedürftigen schon Hautausschläge, Juckreiz und schmerzhafte Ekzeme aufgewiesen hätten. Darüber hinaus sollen die Angeklagten die Seitenteile der Betten nicht befestigt und das Bett in die Zimmermitte gestellt haben, wodurch die Opfer aus dem Bett gefallen seien und sich verletzt hätten.

Manipulierte Pflegedokumentation

Um diese und andere Zwischenfälle zu verschleiern, sollen die Angeklagten danach die Pflegedokumentation manipuliert bzw. gelöscht haben. Der angeklagte Manager soll einer Beschäftigten zudem mit einer Klage auf 200.000 Euro gedroht haben, sollte sie die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht unterschreiben. Der 62-Jährige werde sich nicht schuldig bekennen, erklärte sein Rechtsanwalt. Sein Mandant sei seit Jahrzehnten Gewerkschaftsmitglied, fügte er hinzu.

Angeklagte im Gerichtssaal
APA/ALEX HALADA
Die beiden weiblichen Angeklagten beim Prozessauftakt am Montag

Erstangeklagte fühlte sich überfordert

Der Verteidiger der Erstangeklagten betonte im Eröffnungsvortrag: „Von einer Reihe von Vorwürfen ist nur mehr ein Bruchteil übrig geblieben, und auch bei diesem Bruchteil wird sich zeigen, dass diese Vorwürfe unhaltbar sind.“ Ebenso wie der Rechtsanwalt der zweiten weiblichen Beschuldigten wies er darauf hin, dass bei den in der Anklage genannten Personen kein Verdacht auf Krätze (Scabies) bestanden habe. Als seine Mandantin erstmals von einem Scabies-Ausbruch erfahren habe, habe sie sofort alle nötigen Maßnahmen gesetzt, betonte der Verteidiger.

Die Erstangeklagte bekannte sich zu Beginn ihrer Befragung nicht schuldig. Die 49-Jährige berichtete von Personalnot in dem Pflegeheim durch Langzeitkrankenstände, kurzfristige Ausfälle und Pflegefreistellungen, „das Corona-Virus hat uns vollkommen ins Strudeln gebracht“. Auf die Frage des Einzelrichters, ob sie sich zeitweise überfordert gefühlt habe, meinte die diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin: „Auf alle Fälle.“

Angeklagte Pflegerinnen bestritten alle Vorwürfe

Ein Scabies-Verdacht sei erst aufgetreten, als sie nicht mehr in dem Heim beschäftigt war, sagte die Erstangeklagte. Zu weiteren Vorwürfen betonte die Frau, sie habe nie die Anweisung gegeben, jemandem kein Abendessen zu verabreichen. Eine medikamentöse Freiheitsbeschränkung habe sie nur auf Anordnung eines Arztes und nicht eigenmächtig durchgeführt.

Die Zweitangeklagte hielt fest, dass eine Bewohnerin im April 2021 wegen Hautausschlägen beim Arzt gewesen sei. Damals habe kein Verdacht auf Krätze bestanden. Im Juni sei sie von der Amtsärztin informiert worden, dass eine Mitarbeiterin Scabies habe. Die 56-Jährige beschrieb die Erstangeklagte als „extrem engagiert“.

SeneCura-Pflegeheim in Kirchberg am Wechsel
ORF
Laut der Anklage soll es im Pflegeheim in Kirchberg am Wechsel über Jahre schwere Missstände gegeben haben

Prozess für drei Tage anberaumt

Sitzhosen (also eine Fixierung am Rollstuhl) wurden laut der 49-Jährigen nur angewendet, wenn keine Aufsicht da war oder – wie auch bei Seitenteilen am Bett – wenn sie aus gesundheitlichen Gründen bzw. wegen Sturzgefahr erforderlich waren. Das sei bei längerer Dauer wie vorgeschrieben gemeldet bzw. überprüft worden. Im Fall einer Bewohnerin, die durch einen Sturz aus dem Bett ohne Seitenteil Prellungen erlitten haben soll, habe sie keine Anordnungen erteilt und auch nicht Nachtdienst gehabt. Auch den Vorwurf der Datenfälschung bestritt sie.

Die Verhandlung ist für drei aufeinanderfolgende Tage bis Mittwoch geplant. Die Anklage bezieht sich auf den Zeitraum von November 2015 bis Februar 2022. Dem Mann, der sich wegen schwerer Nötigung verantworten muss, drohen im Fall einer Verurteilung sechs Monate bis fünf Jahre Haft. Bei den beiden Frauen beträgt der Strafrahmen bis zu drei Jahre. Für Montagnachmittag waren Zeugeneinvernahmen geplant. Die Einzelrichterverhandlung wird am Dienstag mit der Erläuterung des Gutachtens und weiteren Befragungen fortgesetzt. Am Mittwoch soll es ein Urteil geben.

„Gefahr für das Leben der Bewohner“

Die Missstände kamen im Februar des Vorjahres nach einer anonymen Anzeige einer Mitarbeiterin auf. Eine Gutachterin, die das Pflegeheim daraufhin mehrere Tage überprüft hat, konstatierte grobe Verfehlungen. Das Minimalsoll an Arbeitsstunden des diplomierten Pflegepersonals sei beispielsweise deutlich unterschritten worden. Zudem schrieb sie von „einer ernstlichen Gefahr für das Leben der Bewohner“.

Exemplarisch war der Fall einer 93-jährigen dementen Frau. Als sie die Gutachterin im Februar 2021 besuchte, notierte sie Folgendes: „Am Tag der Befundaufnahme liegt Frau B. in einem Niederflurbett, die Rufglocke ist außer Reichweite, der Bettgalgen abmontiert. Der Mund der stark abgemagerten Bewohnerin ist weit geöffnet, Ober- und Unterkieferprothese fehlen, die Mundschleimhaut ist sichtbar trocken. An der linken Schläfe ist eine verkrustete Wunde erkennbar.“

Statt des angeordneten „Trinktrainings“ hängt sie am Tropf, ist mit 47 Kilo mangelernährt und immer wieder verletzt, Positionswechselpläne gibt es laut Gutachten nicht. Statt Toilettentraining trug die Frau Windeln, zudem seien ihr „Opioide ohne Feststellung der Schmerzintensität als Dauermedikation verabreicht“ worden. Immer wieder ist im Gutachten von „enthumanisierten, völlig überforderten und überarbeiteten“ Pflegekräften die Rede.

Betreiber spricht von fehlendem Personal

Der Betreiber SeneCura hatte nach Bekanntwerden des Gutachtens von fehlendem Personal gesprochen, gab aber zu, dass das Haus in Kirchberg nicht immer den „hohen Qualitätsstandards entsprochen“ habe. Bis April gab es laut der Aufsichtsbehörde bereits eine „wesentliche Verbesserung der Situation“ – mehr dazu in Nach Missständen: Lage in Heim „gebessert“ (noe.ORF.at; 27.7.2021).

Das Verfahren richtet sich allerdings ausschließlich gegen das Personal des Heims. Die Anklage gegen die Betreiberfirma, unter anderem der Antrag auf Verhängung einer Verbandsgeldbuße, weil etwa durch organisatorische Mängel die Missstände begünstigt worden seien, wurde letztlich fallen gelassen.

Vorwürfe auch gegen zweites Heim

Das Pflegeheim in Kirchberg am Wechsel ist derzeit aber nicht das einzige, bei denen sich SeneCura mit schweren Vorwürfen konfrontiert sieht. Auch gegen vier Pflegekräfte des Heimes in Sitzenberg-Reidling (Bezirk Tulln) wurde mittlerweile Anklage erhoben. Der Prozess soll Ende Jänner am Landesgericht St. Pölten stattfinden. Den Beschuldigten wird u. a. sexueller Missbrauch vorgeworfen.

Pflegeheim Sitzenberg-Reidling SeneCura Staatsanwaltschaft Missstände
ORF/Helmut Stamberg
Rund um Missstände im Pflegeheim in Sitzenberg-Reidling soll es im Jänner nächsten Jahres einen Prozess geben

Der Fall sorgte im März 2021 für große Aufregung: Zwei Mitarbeiterinnen des Heimes hatten damals auf die Missstände hingewiesen und damit den Fall ins Rollen gebracht. Die Staatsanwaltschaft St. Pölten ermittelte daraufhin wegen des Quälens bzw. Vernachlässigens wehrloser Personen sowie des sexuellen Missbrauchs wehrloser Personen.

Anzeige und Entlassungen

SeneCura verwies damals gegenüber noe.ORF.at darauf, dass man sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe reagiert habe. Die Gruppe habe im März 2021 selbst Anzeige erstattet und ein internes Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Dienstverhältnisse der vier beschuldigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden. Im Frühjahr 2021 habe man zudem eine umfassende Gewaltpräventionsinitiative gestartet.

Doch auch die beiden Mitarbeiterinnen, die auf die Missstände aufmerksam gemacht hatten, waren in der Folge entlassen worden – mehr dazu in Pflegeheim: Hinweisgeberinnen verlieren Job (noe.ORF.at; 9.4.2021). Das Unternehmen begründete den Schritt damit: „Eine Anstellung wäre für SeneCura bis zur Klärung der Rolle dieser Mitarbeiterinnen nicht vertretbar.“