Markus Reisner, Oberst des Österreichischen Bundesheers im NÖ Heute Interview
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Ukraine-Krieg

Reisner: „Ukraine-Krieg ist Abnutzungskrieg“

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs analysiert Markus Reisner, Niederösterreicher und Oberst des Bundesheers, die russischen und ukrainischen Militärtaktiken auf dem Youtube-Kanal des Heers. Frieden sei derzeit nicht in Sicht, so der Experte im NÖ-Heute-Interview.

Mehr als zehn Monate dauert mittlerweile der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ursprünglich ist Russland von einer Dauer von wenigen Tagen ausgegangen, aktuell ist aber noch immer kein Ende des Konflikts absehbar, so Reisner. Der Krieg habe in den letzten Monaten mehrere überraschende Wendungen genommen. Die größte Überraschung sei die erfolgreiche Abwehr der Ukraine am Beginn des Kriegs, erläuterte der Militär-Experte.

„Es war aber dann relativ schnell klar, dass dieser Krieg immer mehr zu einem Abnutzungskrieg werden wird“, erklärte Reisner. Das Problem am Abnutzungskrieg sei, dass dieser so lange dauern werde, wie beide Seiten in der Lage sind, Ressourcen nachzuschieben und das bei einer eigentlich festgefahrenen Front. „Und genau mit dieser Situation sind die Länder nun konfrontiert, somit wird der Konflikt auch im heurigen Jahr weitergetragen werden“, prognostizierte Reisner.

Ukraine brauche Material, um Offensiven zu halten

Auf die Frage, welche Partei momentan die überlegenere Kriegspartei ist, antwortete Reisner, dass man dies aus zwei Perspektiven – aus der moralischen und militärischen – betrachten müsse. Es sei gewiss, dass Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt und die Ukraine in der verteidigenden Rolle ist, die versucht, ihr eigenes Gebiet wieder zurückzuerobern – so die moralische Seite.

Aus militärischer Sicht sei die Situation aber so, dass die Ukraine zwar bereits einige Offensiven durchgeführt habe. Momentan müssten aber immer wieder Material, Ausrüstung, Panzer und Gerätschaften nachgefüllt werden, um diese Offensiven weiter am Leben zu erhalten, so der Experte. Auf der anderen Seite stünden die Russen, die sich jetzt eingraben und darauf hoffen, Ressourcen durch den Winter heranzuführen. Russland ziele damit auf eine gute Ausgangsposition für das Frühjahr ab. Ein Ende des Konflikts sei also nicht abzusehen, so Reisner.

Westen will keine Eskalation des Konflikts

Die großen Herausforderungen für die ukrainische Seite sei es in den nächsten Monaten, offensive Fähigkeiten zu entwickeln. Das bedeute auch, Waffensysteme im Inventar zu haben, die Russland schaden könnten. Damit ermögliche man den Ukrainern die Voraussetzung, Gelände zurückzuerobern, welches jetzt in russischer Hand ist.

Zu diesem Inventar würden zum Beispiel weitreichende Raketen, Raketenwerfer sowie Kampfflugzeuge gehören, welche die Ukraine momentan von anderen Staaten fordern. Dabei stünde der Westen – vor allem auch die USA – auf der Bremse, um eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden, so Reisner. Die Frage sei nun, was dieses Verhalten für die Einsätze in der Ukraine in den nächsten Monaten bedeuten werde.

Frieden oder „eingefrorener Konflikt“ möglich

Historisch betrachtet sei es so, dass Konflikte schlussendlich immer am Verhandlungstisch gelöst werden, unabhängig davon, wie die Position der beiden Kontrahenten am Ende ist, analysierte der Militärhistoriker. Momentan sei die Lage so, dass sowohl die Ukraine als auch Russland noch davon überzeugt seien, jeweilige Maximalforderungen erreichen zu können.

„Für die Ukraine bedeutet das, die völlige Wiedereroberung ihres Landes inklusive der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Für Russland ist es immer noch die Zerstörung der Ukraine“, so Reisner. Erst wenn beide Seiten so abgenützt seien, dass sie aufeinander zugehen, dann werde auch eine Basis für Verhandlungen geschaffen werden. Wie das Ergebnis dieser Verhandlungen aussehen könnte, sei aber ungewiss.

Es könne theoretisch sein, dass Frieden einkehre, es könne aber auch zum Einfrieren des Konflikts kommen. Ein Beispiel sei hierfür der Konflikt zwischen Nord- und Südkorea. Bis heute haben die beiden Länder keinen bestehenden Friedensvertrag, aber einen „eingefrorenen Konflikt“, der über Jahrzehnte besteht. Das Beispiel könne man auch auf den Ukraine-Krieg ummünzen.

Militärexperte über die Situation in der Ukraine

Oberst Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer über die Situation in der Ukraine und wie es um die Chancen auf Friedensverhandlungen steht.

Verhandlungen von Kriegstaktiken abhängig

Ob derartige Verhandlungen in Monaten oder erst in Jahren möglich seien, hänge von der militärischen Situation im Frühjahr ab und ob beide Seiten überzeugt seien, Erfolge auf dem Gefechtsfeld erzielt zu haben, antwortete der Militärexperte.

Für die Ukraine würde das beispielsweise eine neue Offensive oder eine große Einkesselung russischer Kräfte auf der Halbinsel Krim, in der Stadt Saporischschja oder in Cherson bedeuten. Für Russland könne es sein, mit den angeführten Reservisten den nächsten Oblast (Anm. Ukrainisches Verwaltungsgebiet) in Besitz zu nehmen.

Von derartigen Ergebnissen werde es abhängen, wie der Konflikt weiter verläuft. Es gebe aber noch viele Faktoren, die eine weitere Rolle spielen. Dazu gehöre die Mobilisierung auf beiden Seiten, die Führungsfähigkeit des russischen Präsidenten Wladimir Putin und des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski sowie die Unterstützung des Westens. Es seien Staaten wie China und Indien im Hintergrund, die bisher nicht klar Position bezogen hätten. In dieser Gleichung gebe es somit einige Variablen, die noch nicht definiert sind. Damit bleibe das Ergebnis der Rechnung weiterhin offen.