Gericht

Pflegeheimprozess: Keine Geständnisse

Zum Start des Prozesses um Vorfälle in einem Pflegeheim in Sitzenberg-Reidling (Bezirk Tulln) haben sich die vier Angeklagten am Mittwoch am Landesgericht St. Pölten nicht schuldig bekannt. Vorwürfe der Misshandlung und des Missbrauchs bestritten sie.

Den vier Angeklagten – drei Frauen und einem Mann – wird vorgeworfen, Bewohner körperlich misshandelt, gequält, missbraucht, beschimpft und bespuckt zu haben. Weiters sollen zusätzliche Medikamente verabreicht worden sein, um Patienten ruhigzustellen. Das Quartett bekannte sich zu Beginn der Schöffenverhandlung nicht schuldig.

Die Anklagepunkte betreffen Quälen und Vernachlässigen wehrloser Personen, fortgesetzte Gewaltausübung und sexuellen Missbrauch von wehrlosen und psychisch beeinträchtigten Personen. Die Anschuldigungen drehen sich um „massive Misshandlungen an Opfern, die eigentlich in Obhut der Angeklagten standen, um die sie sich eigentlich kümmern mussten“, sagte die Staatsanwältin im Eröffnungsvortrag. Als schwerwiegendsten Vorwurf nannte sie die Verabreichung von Schlafmitteln und starken Psychopharmaka, um Bewohner ruhigzustellen und ruhige Dienste zu haben.

Anklage: Bewohner sollten „ins Koma versetzt“ werden

Die Beschuldigten – drei Frauen im Alter von 33 bis 45 Jahren und ein 36-jähriger Mann – sollen im Tatzeitraum März 2020 bis März 2021 in einer WhatsApp-Gruppe über ihre berufliche Tätigkeit geschrieben und auch Fotos versendet haben. Laut den Nachrichten ging es den Pflegehelfern darum, unliebsame Bewohner mit zusätzlichen Medikamenten „ins Koma zu versetzen“. So hieß es etwa laut Anklage, dass Betroffene „gleich niedergespritzt werden“.

Angeklagte im Prozess um mutmaßliche Missstände in einem Pflegeheim
APA/HELMUT FOHRINGER
Die Angeklagten beim Prozessauftakt am Mittwoch in St. Pölten

Beim Vorwurf des Missbrauchs gehe es um einen Vorfall, bei dem sich eine Pflegebedürftige eingekotet habe. Die Pflegehelfer sollen sie daraufhin in die Dusche gebracht und ihr den Duschschlauch rektal eingeführt haben.

Eine 45-Jährige soll auf einen Bewohner eingeschlagen haben, ihm Parfum in den offenen Mund gesprüht und schließlich für mehrere Sekunden einen Kopfpolster gegen sein Gesicht gedrückt haben. Aus den Chats ergebe sich das „Bild eines Berufsverständnisses, das einfach nur abscheulich ist“, sagte die Staatsanwältin.

Angeklagte: „Blödsinn“ zum Frustabbau

Die 33-jährige Zweitangeklagte sagte in ihrer Befragung, sie habe via WhatsApp „lauter Blödsinn“ zum Frustabbau geschrieben: „Wir waren sehr unterbesetzt, es hat sehr viele Krankenstände gegeben.“ Mehrmals verwies sie auf Erinnerungslücken. „Der Chat geht über den Frustabbau hinaus“, entgegnete die vorsitzende Richterin, die der Beschuldigten zahlreiche Nachrichten vorhielt.

So soll die 33-Jährige etwa mehreren Personen zusätzliche Medikamente verabreicht und einer Patientin auf die gebrochene Hand geschlagen haben. Einmal soll sie dokumentiert haben, dass sie eine Bewohnerin nach einem nächtlichen Sturz gefunden habe. In die Gruppe schrieb sie wenige Stunden später, dass die Frau „einen kleinen Schubser gekriegt“ habe. Vor Gericht bestritt die Angeklagte, die Bewohnerin gestoßen zu haben. Eine eigenmächtige Medikamentengabe an Personen schloss sie aus.

Weiters sei ein Sack voller Medikamente gefunden worden, die anderen Bewohnern vorenthalten bzw. nach dem Tod von Patienten nicht zurückgegeben worden sein sollen. Die 33-jährige Erstangeklagte sagte in ihrer Einvernahme, sie wisse nichts von diesem Vorrat.

Opfer nicht aussagefähig

Zwei Kolleginnen hatten Vorfälle beobachtet und im März 2021 der Leitung des Senecura-Heims gemeldet. Die Dienstverhältnisse mit den vier Mitarbeitern wurden sofort nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendet. Die stark pflegebedürftigen Opfer sind nicht aussagefähig. „Die Patienten sind überwiegend nicht in der Lage, sich eigenständig zu bewegen oder sich zu artikulieren“, sagte die Vertreterin der Anklagebehörde. Bei den Folgen für die Opfer „tappen wir leider im Dunkeln“. „Ab dem Zeitpunkt, wo die Angeklagten weg waren, ist es den Patienten wieder besser gegangen“, hielt die Staatsanwältin fest.

Die 33-Jährige soll sich via Handy mit ihrem Partner u. a. über die Medikamentenverabreichung unterhalten haben, was „einem schriftlichen Geständnis gleicht“, meinte die Staatsanwältin. Im Tatzeitraum habe es CoV-bedingte Einschränkungen – etwa keine Besuche von Angehörigen und keine ärztliche Kontrollen – samt Lockdowns gegeben. Die Beschuldigten „konnten daher machen, was sie wollen“, so die Vertreterin der Anklagebehörde. Als Grund für die Taten führte sie Arbeitsüberlastung an, „der Frust hat sich dann gegen bestimmte Patienten gerichtet“.

Pflegeheim des Betreibers SeneCura in Sitzenberg-Reidling
APA/Helmut Fohringer
In diesem Seniorenheim in Sitzenberg-Reidling sollen sich die Missstände ereignet haben

„Es ist etwas schwer verdaulich, was hier vorgeworfen wird“, sagte Rechtsanwalt Stefan Gloß. Medikamente seien etwa an randalierende Bewohner zur Beruhigung verabreicht worden. Der Verteidiger kritisierte, dass ihm und seinen Mandanten Akteneinsicht verwehrt worden sei. Die vorsitzende Richterin wies diesen Vorwurf zurück und bot eine Verschiebung des Prozesses und erneute Akteneinsicht an – „das wollen wir nicht“, so der Rechtsanwalt.

Senecura: Mitarbeiter gekündigt und angezeigt

Das Sozialzentrum Sitzenberg-Reidling ist Teil der Senecura-Gruppe, die in Österreich insgesamt 88 Gesundheits- und Pflegehäuser betreibt. Sieben Tage nachdem die Vorwürfe aufgekommen waren, reichte die Heimleitung eine Sachverhaltsdarstellung bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten ein und informierte die Patientenanwaltschaft und die Fachaufsicht des Landes. Man habe zudem rasch das Gespräch mit den Angehörigen der Opfer gesucht, hieß es von Senecura.

„Wir begrüßen und unterstützen die gerichtliche Aufarbeitung der Vorkommnisse in unserem Haus in Sitzenberg-Reidling“, so eine Sprecherin von Senecura. Neben den vier Angeklagten wurden auch die beiden Whistleblower-Mitarbeiter aus der WhatsApp-Gruppe gekündigt, die den Fall ins Rollen gebracht hatten. Von Senecura hieß es dazu: Die beiden Mitarbeiter hätten dem Treiben zu lange zugeschaut – mehr dazu in Pflegeheim: Hinweisgeberinnen verlieren Job (noe.ORF.at; 9.4.2021).

Der 36-jährige Angeklagte und die 39-jährige Beschuldigte sollen bei der Prozessfortsetzung am Donnerstag einvernommen werden. Weitere Termine sind für 23. Februar sowie 2., 16. und 30. März geplant. Dabei sollen u.a. ehemalige Kollegen befragt werden. Im Fall einer Verurteilung droht dem angeklagten Quartett eine Haftstrafe von bis zu zehn Jahren.