Gesundheit

Kritik von Fachleuten an Kanzlerkritik

Dass die Politik während der Pandemie zu „expertenhörig“ war, wie Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) sagte, dagegen verwehren sich Gesundheitswissenschaftler. „Wo es der Politik in den Kram gepasst hat, da hat sie auf uns gehört“, sagt Virologe Norbert Nowotny.

Es sei „nicht in Ordnung“ und „unfair“, wie Kanzler Nehammer das Coronavirus-Management jetzt darstelle, sagte Nowotny, Virologe an der Veterinärmedizinischen Universität Wien, gegenüber noe.ORF.at. „Wir haben stets nach bestem Wissen und Gewissen Auskünfte erteilt. Vielfach haben wir recht gehabt“, so Nowotny.

Bundeskanzler Nehammer hatte vergangene Woche in Aussicht gestellt, dass er rund um Ostern einen Dialogprozess starten wolle, in dem er gemeinsam mit Expertinnen und Experten die Coronavirus-Pandemie aufarbeiten wolle. Sie habe in der Gesellschaft eine Art Trauma hinterlassen und Gräben aufgerissen, sagte der Kanzler gegenüber mehreren Medien. „Wir waren expertenhörig, nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind“, so Nehammer – mehr dazu in Kritik an Nehammer-Sager zu „Expertenhörigkeit“ (science.ORF.at; 16.2.2023).

Letztes Mittel „Lockdown“

Der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donauuniversität Krems hielt in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Presse“ entgegen, dass Österreich besser durch die Pandemie gekommen wäre, wenn die Regierung häufiger auf Expertinnen und Experten gehört hätte. Gegenüber noe.ORF.at ergänzte er, dass es etwas einfach sei, alle falschen Entscheidungen jetzt auf Expertinnen und Experten abzuschieben.

Gerald Gartlehner (Epidemiologe) bei PK
APA/GEORG HOCHMUTH
Epidemiologe Gerald Gartlehner ist einer der bekanntesten Experten der Coronavirus-Pandemie

Als Beispiel nannte er die Massentests vor Weihnachten 2020. Die Regierung verkündete deren Durchführung, obwohl mehrere Fachleute darauf hingewiesen hätten, dass eine einmalige Durchführung sinnlos und nur teuer sei. Ein weiteres Beispiel spielte sich laut Gartlehner im Herbst 2021 ab. Damals hätte die Politik lange Zeit nicht auf die Expertinnen und Experten gehört. „Die Lage im Gesundheitssystem war so dramatisch, dass die Grenze der Belastbarkeit fast überschritten war“, erinnerte sich Gartlehner. Die Regierung habe trotz des Rats vieler Fachleute keine Maßnahmen gesetzt, sodass letztendlich nur mehr ein Lockdown geholfen habe, sagte der Epidemiologe.

Keine Rede von Expertenhörigkeit

Nowotny verwies auf den Beginn der Pandemie. Er habe über viele Wochen geraten, dass in Alten- und Pflegeheimen, in denen vulnerable Gruppen anzutreffen sind, eine Maskenpflicht eingeführt werden sollte. Es habe Wochen gedauert, bis das geschehen sei.

„In dieser Zeit haben sich viele Menschen angesteckt und sind gestorben“, sagte Nowotny. Von Expertenhörigkeit der Politik könne also keine Rede sein, fanden Nowotny und Gartlehner. Da mache es sich die Politik im Rückblick zu einfach.

Virologe Norbert Nowotny
ORF
„Wir haben stets nach bestem Wissen und Gewissen Auskünfte erteilt. Vielfach haben wir recht gehabt“, so Virologe Norbert Nowotny

Wissenschaftliche Aufarbeitung gefragt

Eine Aufarbeitung der Pandemie sah Epidemiologe Gartlehner grundsätzlich positiv. „Das Wichtigste wäre, dass das jetzt wissenschaftlich aufgearbeitet wird, und zwar von außen“, meinte Gartlehner. Es solle von unabhängigen Fachleuten bewertet werden, was gut und was schlecht gelaufen sei. Leider passiere das derzeit nicht, kritisierte Gartlehner.

Was das Datenmaterial betrifft, sieht Gartlehner deutlichen Verbesserungsbedarf. „Es gibt so viele verschiedene Stellen, die Daten haben, die Länder, die Sozialversicherungen, der Bund. Niemand will Zahlen herausgeben.“ Das mache eine valide Aufarbeitung unmöglich, sagte Gartlehner. Derselben Meinung ist auch Nowotny. „Für die Forschung wären valide Daten sehr wichtig.“