Ukrainische Familie
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Ukraine-Krieg

In der Zuflucht ein neues Zuhause gefunden

Viele tausende Ukrainerinnen und Ukrainer kennen seit einem Jahr das Gefühl, die Heimat verlassen zu müssen. Einige von ihnen sind nach ihrer Flucht in Niederösterreich gelandet. Zwei Betroffene erzählen noe.ORF.at, wie sie ihr neues Leben gestalten.

Der Raum ist vollgestellt mit Reagenzgläsern, Messtrichtern und Flaschen mit Säuren und Lösungen. Ein typisches Chemielabor, das sich für den Ukrainer Kyryl Bocharov wie ein zweites Zuhause anfühlt. Der 21-Jährige studiert seit ein paar Monaten an der IMC Fachhochschule Krems Chemie und ist dabei genau in seinem Element.

„Ich habe in Charkiw (Anm. Stadt in der Ukraine) zu studieren begonnen. Als der Krieg ausgebrochen ist, war ich gerade im Ausland. Ich wusste, ich kann nicht zurück, also bin ich nach Österreich geflüchtet und habe hier ein Stipendium erhalten“, erzählt der 21-Jährige.

Studieren auf Englisch

Bocharov sei glücklich, sein Studium in Österreich fortsetzen zu können. Den Studiengang kann er auf Englisch absolvieren. Ein bisschen Deutsch könne er schon, sagt Bocharov, aber für das gesamte Studium sei es noch nicht gut genug.

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Der 21-jährige Bocharov hat das Chemie-Studium in der Ukraine begonnen. In Krems setzt er es nun fort.

„Ich mag die Menschen, die Berge und die Landschaften“

Dem Chemie-Studenten sei das Studium „enorm wichtig“. Dafür nehme er es auch in Kauf, momentan nicht bei seiner Familie zu sein. Aber so wichtig ihm die Ausbildung ist, so sehr vermisse er auch seine Mutter und seine Schwester. Beide wollten die Heimat nicht verlassen und leben in der ukrainischen Stadt Poltawa, berichtet Bocharov.

„Ich mache mir jeden Tag Sorgen um meine Familie und meine Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Meine Familie hat mich schon einmal in Krems besucht. Aber ich kann momentan nicht in meine Heimat. Also sehe ich sie kaum“, so der Chemie-Student.

Selbst ein kurzer Besuch in der Ukraine ist für den 21-Jährigen nicht möglich, denn dort gilt momentan das Kriegsrecht. Als junger Mann müsste Bocharov in seiner Heimat bleiben, er will aber weiterstudieren, sagt er. Neben dem Studium mag er in Niederösterreich am meisten „die Menschen, die Berge und die wunderschönen Landschaften“.

„Bei der Grenze zu Polen habe ich viel geweint“

Die Natur in Niederösterreich schätzt auch Olesia Kostiukevych. Die 31-Jährige ist seit Herbst Lehrerin an der Sportmittelschule in Wiener Neustadt. Dort lehrt die ausgebildete Lehrerin ukrainischen Kindern in vier Schulklassen Deutsch. Bei ihrer Flucht vergangenen Frühling musste Kostiukevych mit ihrem dreijährigen Sohn Mark und ihrer Schwiegermutter zu Fuß über die polnische Grenze gehen. Ihrem Ehemann musste sie an der Grenze für unbestimmte Zeit Lebwohl sagen.

Olesia Kostiukevych bei der Flucht über die polnische Grenze

„Ich habe viel geweint, bevor wir über die Grenze gegangen sind. Aber die Menschen in Polen waren so nett zu uns. Sie haben uns mit Essen und Tee versorgt, mit meinem Sohn gespielt. Ich war so überrascht, wie nett alle sind“, erzählt Kostiukevych. Fasziniert habe sie auch die Gastfreundschaft in Niederösterreich.

Vergangenen Frühling kam die Lehrerin nach Wiener Neustadt zu Freunden. Dort traf sie eine Familie, die Kostiukevych, ihrem Sohn und ihrer Schwiegermutter eine kleine Wohnung angeboten hatte. „Es fühlt sich komisch an. Ich mag Wiener Neustadt, alle waren bisher so nett zu mir. Auch an dieser Schule fühle ich mich sehr wohl. Die Lehrerinnen und Lehrer, die Direktorin und die Schüler haben mich sehr herzlich aufgenommen. Aber natürlich vermisse ich mein Land“, erzählt die 31-Jährige.

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Olesia Kostiukevych
Vor dem Krieg: Olesia Kostiukevych (2.v.r) mit ihrer Familie in der Ukraine

Trotzdem möchte die Deutschlehrerin zurück in ihre Heimat, aber planen könnte sie ihre Zukunft momentan ohnehin nicht. Mit ihrem Ehemann telefoniert sie jeden Tag, schickt Videos und Fotos des gemeinsamen Sohnes. Denn der Vater sieht sein Kind momentan nur selten.

„Mein Leben plane ich zurzeit nicht voraus“

„Ich mag mein neues Zuhause und wer weiß, sollte mein Mann jemals nach Österreich kommen, leben wir vielleicht hier weiter. Aber die Heimat vermisse ich auch sehr. Die Zeit wird es zeigen, ich kann es nicht deutlich sagen und plane mein Leben auch nicht mehr voraus“, so die Geflüchtete.

Eine Sache könne Olesia Kostiukevych aber ganz deutlich sagen. Etwas, an das sie jeden Tag denken würde: „Ich bin davon überzeugt, dass das Gute immer über das Böse siegt. Ich hoffe und glaube daran, dass dieser Krieg bald ein Ende finden wird und unser Land wieder frei ist.“