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ORF.at/Zita Klimek
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Chronik

„Eklatanter“ Gutachtermangel behindert Justiz

Die Justiz leidet zunehmend unter einem Gutachtermangel, speziell bei Psychiatern und Gerichtsmedizinerinnen. Weil die Staatsanwaltschaften auf Gutachten oft Monate warten, verzögern sich Ermittlungen. Expertinnen und Experten fordern eine Gebührenreform.

Der Drogentod von zwei jugendlichen Mädchen, die in einer Wohnung in Heidenreichstein (Bezirk Gmünd) gefunden wurden, sorgte Anfang Februar für viele Fragen – mehr dazu in Zwei Jugendliche tot aufgefunden (noe.ORF.at; 8.2.2023). Klarheit, etwa um welchen tödlichen Drogencocktail es sich damals genau handelte, soll eine Obduktion bringen. Doch auf das schriftliche Ergebnis muss die Staatsanwaltschaft Krems nach wie vor warten.

Sechs Wochen Warten hieß es zuletzt auch auf das toxikologische Gutachten nach dem Tod eines Wachsoldaten in der Flugfeldkaserne in Wiener Neustadt zu Jahresbeginn – mehr dazu in Toter Soldat: Obduktion zeigt Drogenmix (noe.ORF.at; 17.2.2023). Sogar mehr als fünf Monate dauerte die Ausfertigung des Obduktionsergebnisses im Vorjahr für die Staatsanwaltschaft St. Pölten rund um drei Todesfälle in einem privaten Pflegeheim in Pottenbrunn (Bezirk St. Pölten) – mehr dazu in Todesfälle in Heim: Ermittlungen eingestellt (noe.ORF.at; 2.9.2022).

Pool an Sachverständigen schrumpft

Der Mangel an Gutachterinnen und Gutachtern sei mittlerweile eklatant, heißt es bei einem Rundruf von noe.ORF.at bei den vier Staatsanwaltschaften in Niederösterreich, also St. Pölten, Krems, Korneuburg und Wiener Neustadt. Im Alltag stützen sich die Anklagebehörden derzeit auf einen kleinen Pool an Sachverständigen, teilweise ist es nur eine Handvoll. Fällt dann einer aus, wird es schon eng, sagt ein Sprecher.

Gesetzesbücher am Tisch des Staatsanwaltes
ORF / Rohrhofer
Den Staatsanwälten stehen für die Ermittlungen in manchen Bereichen nur noch eine Handvoll an Sachverständigen zur Verfügung

Derzeit könne man – mit entsprechenden Wartezeiten – noch alles abdecken. Doch bei der Suche nach einem Psychiater, einer Psychiaterin muss man teilweise stundenlang telefonieren. Auf ein Obduktionsergebnis acht Wochen zu warten sei keine Seltenheit mehr. Bei der Staatsanwaltschaft St. Pölten spricht man gar von einem strukturellen Problem, wodurch sich Ermittlungen verzögern. Problematisch sei die Situation vor allem dann, wenn ein Verdächtiger zusätzlich in U-Haft sitzt.

Kein Gerichtsmediziner

Gerichtsmedizinerinnen und Gerichtsmediziner gibt es in der Liste der allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen des Justizministeriums derzeit gar keine in Niederösterreich, in Wien sind es immerhin sieben. Hoffen darf man derzeit in St. Pölten, weil sich demnächst in der Nähe der Landeshauptstadt ein freiberuflicher Pathologe niederlassen könnte. Arbeit wäre jedenfalls vorhanden.

Zeitintensiv sei bei Obduktionen besonders die Ausfertigung des schriftlichen Gutachtens, erklärte der Sprecher der Staatsanwaltschaft St. Pölten. Neben der Obduktion selbst müssen die Gutachter meist auch Einschätzungen zu Fragen geben, die die Ermittler stellen: wodurch etwa Verletzungen entstanden sind und inwiefern diese zum Tod beigetragen haben. Dringendere Fälle würden zudem vorgezogen.

APAHEF19 – 10062009 – WIEN – OESTERREICH: THEMENBILD – Instrumente die fuer eine Obduktion eingesetzt werden aufgenommen am Montag, 03. Maerz 2008, im Pathologischen Institut des SMZ Ost in Wien. Im SMZ Ost werden auch gerichtsmedizinische Untersuchungen durchgefuehrt. APA-FOTO: HELMUT FOHRINGER
APA
Der Kreis an Gerichtsmedizinern in Österreich wird laufend kleiner

Während solche Gutachten über die Jahre immer öfter angefordert werden mussten, wird der Kreis an Gerichtsmedizinern immer kleiner, sagte der Sprecher. Es fehle vor allem an Nachwuchs. Ein Grund dafür sei, dass der Beruf eine Facharztausbildung verlange, für die es im Alltag wenig andere Tätigkeitsbereiche gebe. Deshalb sei das Interesse bei Einsteigerinnen und Einsteigern gering.

Absagen wegen Überlastung

Bei den gerichtlich beeideten Psychiatern sind es in Niederösterreich immerhin zehn, die in der Liste stehen, bei Verkehrssachverständigen 18. Doch diese Zahl sei trügerisch. Manche Sachverständige seien bereits in Pension, andere hätten bei Anfragen oft keine Zeit und würden Aufträge ablehnen. „Kein guter Psychiater tut sich das an“, meint die Leiterin einer Staatsanwaltschaft.

Ein Grund dafür sei die schlechte Bezahlung der Sachverständigen bzw. das Gebührenrecht. Ärzte und Ärztinnen bekommen nämlich genauso wie Chemiker, Dentistinnen, Verkehrssachverständige oder Anthropologinnen pauschalierte Honorare ersetzt. Diese Tarifsätze wurden über Jahrzehnte „nicht indexiert“, kritisiert Kurt P. Judmann, Präsident des Hauptverbands der Gerichtssachverständigen in Österreich.

Niedrige Pauschalbeträge

Ein Psychiater bekommt demnach etwa für ein Gutachten 116 Euro, bei besonders komplexen Fällen maximal 190 Euro – „pauschal, nicht pro Stunde“, wiederholt Judmann. Ein Verkehrssachverständiger erhält 93,50 Euro für ein Gutachten. Pathologinnen und Pathologen erhalten für eine Leichenöffnung zwischen 93 und 187 Euro, „aber im Verhältnis zur Belastung ist das auch bei Weitem zu wenig“.

Hochsicherheitstrakt der Justizanstalt Stein in Krems
APA/HELMUT FOHRINGER
Sachverständige entscheiden mit ihren Gutachten etwa, ob Menschen weiter hinter Gitter bleiben müssen oder entlassen werden

Diese Regelung stammt aus dem Jahr 1975. „Damals dachte man, dass medizinische Gutachter wie Psychologen viele gleiche Fragen stellen“, erklärt Judmann. Es ging um standardisierte Leistungen. Dieses System habe sich jedoch über die Jahre „totgelaufen“. Gutachten von Psychiatern seien „viel komplexer und verantwortungsvoller“. Die Staatsanwaltschaften sind jedoch an diese Richtsätze gebunden.

Die Vorgaben für Pauschalhonorare gelten übrigens nur im Strafrecht oder bei Erwachsenenschutzverfahren – also in jenen Bereichen, in denen der Staat Gutachten in Auftrag gibt und bezahlt. Im Zivilrecht, bei dem letztlich Bürgerinnen und Bürger oder in der Regel Versicherungen die Kosten übernehmen, können alle Gutachter „marktübliche Stundensätze“ verlangen, ergänzt Judmann.

Forderung nach Gebührenreform

Der Präsident der Gerichtssachverständigen fordert deshalb eine Gebührenreform sowie ein Ende von Pauschalbeträgen. Stattdessen plädiert er für ein System wie bei Bausachverständigen, die für ihre Arbeit von einem branchenüblichen Durchschnittsstundenlohn 20 Prozent abziehen. „Immerhin übernehmen die Sachverständigen wichtige Aufgaben“, betont Judmann.

Vergangene Woche gab es dazu mit Verantwortlichen des Justiz-, Sozial- und Finanzministeriums einen runden Tisch. Das Ergebnis: Eine Anpassung der Nebengebühren, die seit 2007 nicht angepasst wurden, während die Inflation um 48 Prozent stieg, soll vom Justizministerium evaluiert und eine Kostenschätzung dem Finanzministerium vorgelegt werden. Laut Judmann braucht es aber eine Gesamtreform, die der Verband nun über den Sommer ausarbeiten will.