Der Schwurgerichtssaal im Landesgericht St. Pölten
APA/HELMUT FOHRINGER
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Chronik

Drei Schuldsprüche im Pflegeheimprozess

Mit drei Schuldsprüchen und einem Freispruch – nichts rechtskräftig – ist der Prozess rund um Vorfälle in einem Pflegeheim in Sitzenberg-Reidling (Bezirk Tulln) zu Ende gegangen. Es ging um das Quälen und Vernachlässigen wehrloser Personen sowie sexuellen Missbrauch.

Es waren massive Vorwürfe, mit denen die Angeklagten – drei Frauen und ein Mann im Alter von 33 bis 46 Jahren – beim seit Jänner andauernden Prozess konfrontiert wurden. Demenzkranke sollen laut Staatsanwaltschaft gequält, misshandelt, geschlagen, beschimpft und bespuckt worden sein. Außerdem sollen den Pflegeheimbewohnern zusätzliche Mittel verabreicht worden sein, um sie ruhigzustellen.

Drei der vier Beschuldigten sollen sich darüber auch intensiv in einer WhatsApp-Gruppe ausgetauscht haben. Laut den Nachrichten ging es den Pflegehelfern darum, unliebsame Bewohner mit zusätzlichen Medikamenten „ins Koma zu versetzen“. So hieß es etwa laut Anklage, dass Betroffene „gleich niedergespritzt werden“. Alle vier Beschuldigten bekannten sich von Beginn an nicht schuldig – mehr dazu in Pflegeheimprozess: Keine Geständnisse (noe.ORF.at; 24.1.2023).

Teilbedingte Haftstrafen für drei der vier Angeklagten

Auch der Verteidiger des Quartetts wies die Vorwürfe in seinem Schlussplädoyer am Donnerstag noch einmal zurück. Chats und sichergestellte Medikamente würden nicht für einen Schuldspruch ausreichen. Für die Staatsanwältin war die Verantwortung der Beschuldigten nicht glaubwürdig: „Das Beweisnetz ist viel zu eng.“

Für den Schöffensenat reichten die Beweise in drei Fällen aus. Zwei Frauen und ein Mann wurden verurteilt, Bewohnern eigenmächtig stark sedierende Medikamente verabreicht zu haben, um sie ruhigzustellen, sowie wegen fortgesetzter Gewaltausübung durch Freiheitsentziehung. Die 46-jährige Erstangeklagte wurde auch wegen Quälens und Vernachlässigens wehrloser Personen schuldig gesprochen. Sie erhielt 30 Monate, davon 20 Monate bedingt.

Der 36-jährige Mann wurde zu 24 Monaten, davon 16 auf Bewährung, verurteilt. Eine 33-Jährige erhielt 21 Monate, davon 14 bedingt. Die 39-jährige Viertangeklagte wurde freigesprochen. Die Urteile des Landesgerichts St. Pölten sind nicht rechtskräftig. Die Verteidigung erbat Bedenkzeit. Zum Vorwurf des sexuellen Missbrauchs sowie zu einem Teil der angelasteten Taten erfolgten Freisprüche im Zweifel.

Taten für Richterin „massiv verwerflich“

Die vorsitzende Richterin bezeichnete es als „massiv verwerflich“, dass die Angeklagten von der Causa Pflegeheim Kirchstetten wussten, aber trotzdem ähnliche Taten setzten. „Es geht hier um hilfsbedürftige Menschen, die Sie ruhiggestellt haben. Das kann es nicht sein“, betonte sie. Um eine „abschreckende Wirkung“ zu erzielen, sei ein Teil der Haftstrafen unbedingt zu verhängen gewesen. Als erschwerend wurde bei einem Strafrahmen von bis zu zehn Jahren die große Anzahl an Angriffen und Opfern gewertet, als mildernd der bisher ordentliche Lebenswandel.

Schaltung zu Reporter Stefan Schwarzwald-Sailer (ORF)

Stefan Schwarzwald-Sailer war beim Pflegeheim-Prozess dabei und berichtet vom Landesgericht St. Pölten.

„Wir begrüßen, dass diese Vorwürfe im Rahmen der Verhandlung ordentlich aufgearbeitet wurden und nun ein juristisches Ergebnis vorliegt“, teilte der Pflegeheimbetreiber SeneCura nach der Urteilsverkündung in einer schriftlichen Stellungnahme mit. Betont wurde dabei, dass die Beschuldigten nicht mehr für die SeneCura Gruppe tätig seien und diese auch selbst nicht angeklagt war. Man habe „unmittelbar nach Bekanntwerden der Vorwürfe die Konsequenzen gezogen“, sich von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getrennt und die Vorwürfe zur Anzeige gebracht.

Staatsanwältin sah Chats als „schriftliches Geständnis“

„Es gab immer wieder Gerüchte und Andeutungen, das wollte aber lange Zeit keiner hören“, verwies die Staatsanwältin zuvor im Schlussvortrag auf Zeugenaussagen, wonach Bewohner „sehr müde“ gewesen seien. Zwei Mitarbeiterinnen hatten im März 2021 die Leitung des SeneCura-Heims informiert, die daraufhin Strafanzeige erstattete. Leider gebe es keine Aussagen von den demenzkranken Bewohnern, das dürfe aber nicht zum Nachteil der Opfer sein, so die Staatsanwältin.

Als „objektive Beweismittel“ führte sie die Nachrichten der WhatsApp-Gruppe an. Dass man in den Nachrichten Personen beschimpfe und „im Alltag ein liebevoller Pfleger ist, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen“, sagte die Staatsanwältin. Sie sah ein „schriftliches Geständnis“ der 33-jährigen Angeklagten in Nachrichten mit ihrem Partner. Zudem wurden zahlreiche Medikamente ohne Zuordnung zu Bewohnern sichergestellt.

Die Angeklagten „haben Bewohner handlungsunfähig gemacht, im Zimmer abgelegt und die Tür zugemacht“, um ihre Ruhe zu haben, so die Staatsanwältin. Sie betonte auch, dass sich der Zustand vieler Opfer laut Zeugenaussagen gebessert hatte, nachdem das Dienstverhältnis mit den vier Beschuldigten nach Bekanntwerden der Vorwürfe beendet wurde.

„Corona hat all das begünstigt“, meinte die Vertreterin der Anklagebehörde: „Man hat hier schalten und walten können, wie man wollte.“ Pandemiebedingt habe es monatelang keine Besuche von Ärzten oder Angehörigen gegeben. Überlastung sei keine Entschuldigung für die Taten, „man darf das auf keinen Fall an den Schwächsten auslassen“, betonte die Staatsanwältin. Sie sprach sich für eine generalpräventive Strafe aus. Nach der Causa Pflegeheim Kirchstetten handle es sich um das zweite derartige „Katastrophenverfahren“, so etwas dürfe nicht mehr wieder passieren.

Verteidiger: „Reinigung der Psyche“ aber „keine Qualen“

Der Verteidiger der vier Beschuldigten wies die Anklagevorwürfe zurück. Es gebe keine Beweise, dass Bewohnern Medikamente verabreicht wurden, die nicht zulässig waren. Der Chatverkehr habe der „Reinigung der Psyche“ gedient, meinte der Jurist. Die Handynachrichten und die sichergestellten Medikamente „reichen wirklich nicht aus, um meine Mandantschaft schuldig zu sprechen“. Ob die Verabreichung von Mitteln einen Nachteil hatte, sei nicht geklärt.

Der Verteidiger räumte „gewisse Unzulänglichkeiten“ ein. Die Anklage beinhalte Vorfälle, „die nicht passieren sollen, aber strafbar ist das nicht“. Bewohnern seien „keine seelischen oder körperlichen Qualen“ zugefügt worden, erklärte der Verteidiger. Die vorgeworfenen Tatbestände sah er nicht erfüllt: „Rein rechtlich geht sich das Ganze nicht aus.“ Der Jurist ersuchte um Freisprüche im Zweifel für seine Mandanten. Der Schöffensenat zog sich gegen 16.00 Uhr zur Beratung zurück.

Angeklagte im Prozess um mutmaßliche Missstände in einem Pflegeheim
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Der Prozess gegen drei Frauen und einen Mann lief seit Jänner. Alle vier bekannten sich von Beginn an nicht schuldig. Am sechsten Verhandlungstag folgte ein Urteil.

Sechsten Verhandlungstag brachte weitere Befragungen

Am sechsten und letzten Verhandlungstag waren zuvor noch einmal Zeugen befragt worden – ehemalige Arbeitskollegen der Beschuldigten und ein Kriminalbeamter. Es habe Gerüchte und Vermutungen gegeben, aber keine Beweise, meinte eine damalige Mitarbeiterin. Sie berichtete von einer „sehr gedrückten Stimmung“ auf der Station.

Eine diplomierte Beschäftigte sagte: „Es war sehr ruhig. Diese Ruhe war irgendwie unangenehm.“ Bewohner hätten beispielsweise nicht miteinander gesprochen. Nachdem die Angeklagten nicht mehr im Heim tätig waren, wurde es laut mehreren Zeuginnen „lebendiger“ auf der Station. Bewohner seien wieder „aktiver“ gewesen.

Eine Zeugin berichtete am Donnerstag von einem Bewohner, dessen Zustand sich im März 2021 über das Wochenende stark verschlechtert hatte. Die Mitarbeiterin und die zuständige Ärztin vermuteten, dass der Demenzkranke zu viele Medikamente erhalten hatte. Der männliche Angeklagte, der am Wochenende Dienst hatte, habe dies bestritten.

Einige der früheren Kolleginnen der Angeklagten berichteten von Personalmangel 2020 und 2021 im Heim. Übereinstimmend mit den Beschuldigten und im Gegensatz zu anderen Zeugen erklärte eine ehemalige Beschäftigte, dass Pflegeassistenten bei Bedarf zusätzliche Medikamente auch ohne vorherige Zustimmung von diplomierten Kräften verabreichen durften. Ihre Chefin habe das erlaubt, meinte die frühere Heimmitarbeiterin. Die Vorgesetzte hat das in ihrer Zeugenbefragung vor zwei Wochen bestritten. Eine ehemalige Kollegin beschrieb die 46-jährige Erstangeklagte als „sehr bestimmend und autoritär auch Bewohnern gegenüber“ und meinte: „Es war keine herzliche Atmosphäre.“

„Pflegeheimbewohner wirkten sehr müde“

Diese Aussagen von Donnerstag deckten sich damit mit Aussagen, die es bereits an den vergangenen Prozesstagen gegeben hatte. Zu Beginn des Prozesses hatten vor allem Ex-Kolleginnen ausgesagt, später etwa auch die frühere Vorgesetzte der vier Angeklagten, die von „sehr müden“ Bewohnerinnen und Bewohnern im Anklagezeitraum 2020 bis 2021 berichtete. Zudem hatte sich deren Zustand verschlechtert, meinte die Frau übereinstimmend mit anderen Zeuginnen.

Nachdem die Angeklagten nicht mehr im Heim tätig waren, hätte sich der Zustand der Demenzkranken verbessert, hieß es immer wieder. „Die Leute waren wacher und haben mehr am Leben teilgenommen", war im Laufe des Prozesses zu hören – mehr dazu in Pflegeheim-Prozess: Bewohner „sehr müde“ (noe.ORF.at; 16.3.2023). Die Dienstverhältnisse der Angeklagten waren nach Bekanntwerden der Anschuldigungen beendet worden.

Weitere Beweisanträge abgelehnt

Die Verteidigung stellte am Vormittag des letzten Verhandlungstages noch zahlreiche Beweisanträge. So sollten weitere Zeugen befragt und Sachverständigengutachten in Bezug auf mehrere Anklagevorwürfe eingeholt werden. Die Staatsanwältin sprach sich aufgrund von „Nichtrelevanz“ dagegen aus.

Der Schöffensenat lehnte die weiteren Beweisanträge schließlich ab. Großteils begründete die Richterin dies damit, dass Rechtsfragen nicht durch ein Sachverständigengutachten geklärt werden könnten. Auch die beantragte Einvernahme weiterer Zeugen wurde abgewiesen, weil diese nach Ansicht des Schöffensenats nicht zur weiteren Klärung des Sachverhalts beitragen könnten. Das Urteil fiel schließlich am späten Nachmittag.