Im September 2020 war er der Sieger der US Open und damit nach Thomas Muster der zweite Österreicher, der den Einzeltitel bei einem Grand-Slam-Turnier gewann. Im Juni 2021 beim Turnier auf Mallorca zog er sich eine Handgelenksverletzung zu, die mit einer längeren Pause verbunden war. Mittlerweile ist die ehemalige Nummer drei der Welt nur noch die Nummer 91. Das sind die Fakten der jüngeren Karriere von Dominic Thiem aus Lichtenwörth (Bezirk Wiener Neustadt).
Tennisfans aus aller Welt rätseln seit jenem verhängnisvollen Tag im Juni 2021, wann bzw. ob Thiem jemals wieder so stark sein wird wie vor der Verletzung. Im Gespräch mit noe.ORF.at erklärt der erfahrene Sportpsychologe Ronald Newerkla, warum sich Spitzensportlerinnen und -sportler nach einer Verletzung lange sehr schwertun und welche Prozesse Thiem seitdem durchlaufen hat.
noe.ORF.at: Herr Newerkla, war die Verletzung tatsächlich der Beginn der Leidenszeit von Dominic Thiem oder hat diese eventuell schon früher begonnen?
Ronald Newerkla: Wenn es längere Zeit zu einer totalen mentalen Überforderung kommt und auch zu einem seelischen Ungleichgeweicht, wirkt sich das körperlich aus. Der Körper ist in einer Asymmetrie und daher verletzungsanfälliger. Das hätte man schon früher abfedern müssen, indem man sich Auszeiten nimmt und damit die Freude am Sport erhält.

noe.ORF.at: Das bedeutet, die Handgelenksverletzung war eigentlich nur eine Folge von mentaler Überlastung?
Newerkla: Ja! Das gesamte System, angefangen von Faszien über die Bänder bis zu den Sehnen, gerät bei einem emotionalen Ungleichgewicht oder einer mentalen Überlastung auf Dauer unter Zugspannung. Verletzungen sind die logische Folge.
noe.ORF.at: Thiem hat zuletzt gesagt, dass nach seinem größten Triumph, dem US-Open-Sieg, alles wie ein Kartenhaus zusammengefallen ist. Warum kann so ein Erfolg auch in die negative Richtung ausschlagen?
Newerkla: Die Kunst der dauerhaften Leistungserbringung ist der Wechsel zwischen Belastung und Entlastung. Das muss man aber planen und nicht zufällig passieren lassen. Man braucht physische und psychische Erholung, damit das System funktioniert.

noe.ORF.at: Thiem hat mit zahlreichen Comebackversuchen und darauf folgenden Pausen verwundert und keine gute Figur abgegeben. Was war der Grund?
Newerkla: Ein Tennisspieler will so schnell wie möglich wieder auf den Platz kommen und funktionieren. Thiem musste in seinem Tennisleben aber schon sehr lange immer funktionieren. Nach einer Verletzung ist dann jeder Rückschlag drei- und vierfach bitter. Der Sportler merkt ja auch, dass er in Wahrheit nicht dafür bereit ist. Dann kommt man in eine Abwärtsspirale, und genau bei solchen Problemen ist die Hilfe eines Sportpsychologen sehr wichtig.
noe.ORF.at: Können die großen Erfolge der Vergangenheit auch Druck aufbauen, anstatt zu motivieren?
Newerkla: Thiem hat zuletzt in einem Interview gesagt, dass die Leute wissen, was er alles geleistet hat. Er sollte es aber auch selber nicht vergessen und daran denken, dass ihm das niemand mehr wegnehmen kann. Jetzt gilt es, die Freude am Sport wieder zu finden, und alles andere wird dann von selbst kommen.

noe.ORF.at: Wie könnte er diese Freude am Tennis wieder finden?
Newerkla: Eine gute Möglichkeit sind andere Sportarten. Vom Wandern in der Natur über Klettern bis zum Skitourengehen im Winter. Das ist enorm wichtig und eine gute Ablenkung zur eigentlichen Sportart. Auch deshalb, weil der Leistungsgedanke nicht so im Vordergrund steht.
noe.ORF.at: Wird Thiem jemals wieder so gut sein wie er schon einmal war?
Newerkla: Ich würde es ihm wünschen. Wir sehen bei Sportlern immer wieder, dass sie stärker als zuvor aus einer Verletzungspause kommen. Das hat den einfachen Grund, dass der Körper in der Zwangspause jene Erholungsphase bekommt, die er eigentlich schon früher verlangt hätte. Dann kommt man gestärkt zurück, und wenn Dominic Thiem das gelingt, wäre das natürlich super.