„Soldatenkinder“: Tabuthema seit 65 Jahren

Die Mutter Österreicherin, der Vater Angehöriger einer Besatzungstruppe: Historiker erforschen das Schicksal der „Soldatenkinder“. Viele schämten sich wegen ihrer Herkunft, wie Anna E., die 1945 infolge einer Vergewaltigung zur Welt kam.

Anna E. litt ihr Leben lang unter dieser „Schande“. Ihre eigene Familie wie auch die Nachbarn ließen sie von Beginn an spüren, dass sie „nicht dazugehörte“ und „nicht willkommen“ war. „Wir sind ja nicht nur obligatorisches Strandgut eines Krieges, sondern Kinder, die ein Verlangen danach haben, ihrem Vater ein Gesicht und eine Geschichte geben zu können“, sagt Brigitte Rupp, Tochter eines britischen Besatzungssoldaten.

Als „Kinder des Feindes“ immer diskriminiert

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen in Österreich und Deutschland so genannte Besatzungskinder auf die Welt: als Folge freiwilliger sexueller Beziehungen zwischen einheimischen Frauen und Besatzungsangehörigen, aber auch als Folge von Vergewaltigungen. Sie galten als „Kinder des Feindes“, obwohl die Väter de jure keine Feinde mehr waren, und waren - gemeinsam mit ihren Müttern - meist unterschiedlichen Formen von Diskriminierung ausgesetzt.

Rotarmist mit Kleinkind

Barbara Stelzl-Marx

Eine der seltenen Aufnahmen eines sowjetischen Besatzungssoldaten mit seinem österreichischen Kind. Kurze Zeit später wurde der Rotarmist in die Sowjetunion versetzt.

„Gerade Kinder sowjetischer und ‚farbiger‘ französischer Besatzungsangehöriger oder schwarzer GIs bildeten eine Angriffsfläche für rassische, ideologische und moralische Vorurteile, was zum Teil auch eine Folge der NS-Propaganda darstellte“, sagt Barbara Stelzl-Marx, stellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung und Leiterin der Internationalen Konferenz „Besatzungskinder in Österreich und Deutschland“, die am 27. September 2012 in Wien stattfindet, und an der Historiker, Sozialwissenschafter und Zeitzeugen teilnehmen.

Stelzl-Marx: „Eine vaterlose Generation“

Vor allem in der sowjetischen Besatzungszone seien Beziehungen zwischen Soldaten und einheimischen Frauen unter keinem guten Stern gestanden. „Stalins Politik erlaubte es den Soldaten nicht, österreichische Frauen zu heiraten oder sie und das Kind mit in die Heimat zu nehmen. Im Gegenteil: Wurde eine solche Beziehung bekannt, drohte die Versetzung“, so Stelzl-Marx. Durch den Kalten Krieg sei es dann kaum möglich gewesen, den Kontakt aufrecht zu erhalten. Die meist jungen Mütter blieben ohne Geld in einer wirtschaftlich prekären Situation zurück. Die Kinder wuchsen ohne leiblichen Vater auf, „eine vaterlose Generation“, wie es die Historikerin bezeichnet.

Mutter mit Kind

Barbara Stelzl-Marx

Ursula F. hatte eine Liebesbeziehung mit einem sowjetischen Besatzungssoldaten. „Im Oktober 1947 kam die gemeinsame Tochter Angelika auf die Welt. Als Erinnerung an ihren Vater sind ihr nur einige Fotos und Briefe geblieben. Die Suche nach ihm war bisher erfolglos“ (Barbara Stelzl-Marx).

Anders sei die Situation in der britischen, französischen oder amerikanischen Besatzungszone gewesen. Als das Fraternisierungsverbot im Oktober 1945 aufgehoben wurde, wanderten einige einheimische Frauen als „war brides“ mit ihren Ehemännern in die USA aus. Einige britische Soldaten ließen sich in Österreich nieder und gründeten hier eine Familie.

Besonders schwer hätten es jedoch die Kinder afroamerikanischer Soldaten gehabt. „Diesen Kindern hat man angesehen, dass sie anders waren. Sie hatten keine Möglichkeit, sich zu verstecken“, sagt Stelzl-Marx. Zusammen mit den Kindern von sowjetischen Soldaten seien sie den schlimmsten Diskriminierungen ausgesetzt gewesen.

20.000 Kinder wurden an den Rand gedrängt

Nach Angaben der einzelnen Bundesländer wurden zwischen 1946 und 1953 etwa 8.000 „Soldatenkinder“, wie ein zeitgenössicher Ausdruck lautete, geboren. Die Gesamtzahl dürfte aber österreichweit bei mindestens 20.000 liegen, denn viele Mütter gaben bei der Geburt den Vater als „unbekannt“ an. Für Deutschland geht man von mindestens 100.000 Kindern von Besatzungssoldaten aus.

Trotz ihrer großen Zahl waren und sind die Betroffenen quasi „unsichtbar“. „Viele wurden an den Rand der Gesellschaft und Familie gedrängt, sie wuchsen bei Pflege- oder Großeltern auf und waren von einer merkwürdigen Mischung aus Tabuisierung und mysteriösen Anspielungen Außenstehender umgeben. Viele schämen sich jetzt noch, über ihre Abstammung zu sprechen, oder stoßen auf eine Mauer des Schweigens“ (Barbara Stelzl-Marx). Bis heute gibt es weder in Österreich noch in Deutschland eine staatliche Einrichtung, die sich der Anliegen der Betroffenen annimmt.

Umgeben von Lügen und Tabuisierungen

Bei einem großen Teil der Besatzungskinder sind die Folgen der negativen individual-psychischen und psychosozialen Erfahrungen bis heute bemerkbar. Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx: „Auch die gesellschaftliche Ächtung - oder die Angst davor - ist im näheren Umfeld nach wie vor spürbar. Gleichzeitig sind viele der Betroffenen von Tabuisierungen, Verheimlichungen und Lügen umgeben. Dies ist besonders schmerzhaft, wenn wenig bis nichts vom Vater bekannt ist.“

Die Suche nach dem Vater ist für viele der Betroffenen Zeit ihres Lebens ein Thema. „Hast Du Dir je Gedanken gemacht, was mit mir - Deiner Tochter - geschehen wird? Hast Du Dir je Sorgen gemacht, ob ich wenigstens einen guten Stiefvater bekäme? Ich vermute fast, dass ich - Deine Tochter - für Dich mehr als tot bin, nämlich gar nie existiert habe.“ Das schrieb Brigitte Rupp, Tochter eines britischen Besatzungssoldaten, in einem Brief an ihren unbekannten Vater.

Konferenz soll „Mauer des Schweigens“ einreißen

Die Konferenz „Besatzungskinder in Österreich und Deutschland“ findet am 27. September 2012 ab 9.00 Uhr in der Diplomatischen Akademie in Wien statt. Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung beim Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung ist jedoch erforderlich.

Bei dieser Konferenz wird erstmals ein Überblick über die Situation der Besatzungskinder in den unterschiedlichen Besatzungszonen Österreichs und Deutschlands gegeben, ihre Sozialisations- und Lebensbedingungen sowie ihre weiteren Biografien. Die Rolle der (Nachkriegs-)Gesellschaften wird dabei ebenso berücksichtigt wie jene der (ehemaligen) Besatzungsmächte. Vor kurzem ist das Buch „Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955“ von Barbara Stelzl-Marx bei Böhlau/Oldenbourg erschienen, bei dem das Konferenzthema ausführlich behandelt wird.

Das Ziel der Konferenz sei nicht nur, „diese Mauer des Schweigens einzureißen“, sondern auch der Generation der Besatzungskinder eine Stimme zu geben und sich gegenseitig bei der Suche nach den eigenen Wurzeln zu unterstützen. Immer wieder würden Besatzungskinder mit dem Wunsch an das Institut herantreten, ihre Väter zu finden, so Stelzl-Marx.

Reinhard Linke, noe.ORF.at

Links: