St. Pölten: Nachkommen auf Spurensuche

90 Nachkommen von in der NS-Zeit vertriebenen jüdischen Familien aus St. Pölten und Umgebung haben sich Ende Juni auf Spurensuche ihrer Vergangenheit begeben. Initiiert wurde das Treffen vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs.

Für die meisten Besucher aus Israel, den USA, aber auch aus Europa, Mexiko und Argentinien war es der erste Kontakt zu der ehemaligen Heimatstadt ihrer Eltern oder Großeltern. Die ehemalige Synagoge, aber auch der jüdische Friedhof in St. Pölten waren die ersten Stationen ihrer Reise.

Jüdischer Friedhof Sankt Pölten

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Spurensuche am jüdischen Friedhof in der Landeshauptstadt St. Pölten

Sie entdeckten die Gräber ihrer Vorfahren, durch die geknüpften Kontakte stießen die Gäste mitunter auch auf bisher unbekannte Verwandte. „Das hat uns eine Verbindung zu einem anderen Zweig der Familie gebracht. Sie leben zwar nicht in St. Pölten, aber in Wien. Wir haben Sie Samstag getroffen“, sagte Liron Verdiél aus Israel.

Viele St. Pöltner Juden wurden nach 1938 ermordet

Viele St. Pöltner Juden wurden nach 1939 deportiert, erschossen oder in Konzentrationslagern ermordet. Einige konnten rechtzeitig fliehen. „Meine Mutter ist 1923 geboren, sie hat im September 1939 ein Zertifikat für die Ausreise nach Palästina bekommen, sie hatte großes Glück“, erzählte Miron Harary aus Israel. Anderen glückte die Flucht nach Südamerika. „Mein Großvater war im Konzentrationslager, sein Bruder hat die Nazis bestochen und ihn rausgeholt. Sie haben es geschafft, mit dem letzten Schiff Europa zu verlassen“, schilderte Jo Ann Rothenberg aus den USA.

Nun spazierte sie gemeinsam mit ihrem Bruder durch die St. Pöltner Lederergasse, am Haus Nummer 8 vorbei, in dem ihre Mutter und ihre Großeltern vor der Flucht gelebt hatten. „Es ist sehr surreal, dieselben Wege zu gehen, die meine Mutter zum Beispiel in die Schule gegangen ist. Es ist erstaunlich, das zu erleben, die Region zu sehen, in der sie gelebt haben.“

Spurensuche nach jüdischen Famijlien in Sankt Pölten

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Jo Ann Rothenberg mit ihrem Bruder vor dem Haus Lederergasse 8

Die Großmutter und die Mutter von Nina Moldauer mussten mit der Zahnbürste die Straße vor ihrem Haus putzen, erzählte sie. Nun lebt ihre Familie in der Schweiz. Sie sucht gemeinsam mit ihrer Schwester nach einem Weg, ihre Familiengeschichte zu verarbeiten, und dankt Martha Keil, der Leiterin des Instituts für jüdische Geschichte in Österreich mit Sitz in St. Pölten, dafür, dass sie das Treffen initiierte.

Ziel ist eine virtuelle jüdische Gemeinde in St. Pölten

Keil träumt von einer virtuellen jüdischen Gemeinde in St. Pölten, die aus dem Besuch der Nachkommen jüdischer Familien entstehen könnte: „Die auf Kontakten, Gefühlen, auf Austausch und Netzwerken beruht, und die auf die nächste Generation weitergehen kann, wenn diese das will.“ Die ersten Schritte dazu wurden soeben gesetzt, Nina Moldauer und ihre Schwester ergänzen: „Wir, die Töchter von Edith Löw, werden vielleicht Frieden mit Österreich und der Geschichte machen können.“

Manuela Matl, noe.ORF.at

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