München: „Hatte zum ersten Mal wirklich Angst“

Die gebürtige Wiener Neustädterin Julia Kautz lebt und arbeitet seit 14 Jahren in München. „Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Angst“, sagt die Musikerin nach der Bluttat mit neun Toten im Interview mit noe.ORF.at.

Zum Zeitpunkt der Bluttat im Olympia-Einkaufszentrum in München war Julia Kautz im Tonstudio, wo sie derzeit an einem neuen Album arbeitet. Im Interview mit noe.ORF.at beschreibt sie die dramatischen Stunden der Ungewissheit und die Panik, die sich vor allem durch Gerüchte von angeblichen weiteren Schießereien verbreitet hat. „Wenn man die Stadt, die man so liebt und in der man wohnt, plötzlich in so einem Ausnahmezustand sieht - das war unheimlich gruselig“, so die 34-Jährige.

noe.ORF.at: Wo waren Sie am Freitagabend, als die Schießerei in München losging?

Julia Kautz: Wir waren gerade mit der Tonaufnahmen für heute fertig, wollten den Computer runterfahren und nach HAuse fahren. Auf einmal habe ich auf Facebook gesehen, dass eine Freundin gepostet hat: ‚Schießerei im Olympia-Einkaufszentrum‘. Zwei Sekunden später hat das Handy meines Produzenten geklingelt, seine Frau war dran, die gerade mit der kleinen Tochter direkt daran vorbeigefahren ist. Sie war ganz aufgeregt, meinte sie sind ok, aber irgendwie gab es eine Schießerei und alle Straßen sind gesperrt und irgendwie ist da die Hölle los.

Julia Kautz

Sascha Wernicke

Julia Kautz lebt und arbeitet seit 14 Jahren in München: „Offenbar war ganz München in Angst und Panik“, so die Musikerin.

noe.ORF.at: Wie haben Sie auf diese Nachricht reagiert?

Kautz: Zu dem Zeitpunkt wusste noch keiner, was los ist. Ich habe natürlich sofort all meinen Freunden geschrieben, ob alle okay sind. Wenige Sekunden später ging es schon los. Wir haben eine WhatsApp-Gruppe von unseren Freunden. Alle haben auf einmal alle Gerüchte geschrieben, alle zwei Sekunden gab es andere Gerüchte. Auf einmal waren alle panisch, dass es auch eine Schießerei am Stachus, am Museumsplatz und am Isartor gibt. Man bekam plötzlich Panik, weil gefühlt war es so, dass ganz München beschossen wurde. Wir haben sofort das Fernsehen eingeschaltet und alle Nachrichten gesehen. Man hat dann schon wirklich Angst bekommen. Angst, dass man erschossen wird, wenn man rausgeht.

Wir wussten gar nicht, was wir machen sollen. Die Polizei hat gewarnt und gemeint, man soll drinnen bleiben. Wir sind dann alle erstmal im Studio geblieben. Ich wollte eigentlich direkt zu einem Freund ans Isartor fahren, aber da gab es dann fünf Minuten später auch die Gerüchte, dass geschossen wird. Es war wirklich ganz schlimm. Mein Freund, der am Isartor wohnt, hat sogar gemeint, er hätte Schüsse gehört. So eine Panik ist dann entstanden, dass sich Leute offenbar auch Schüsse eingebildet haben.

noe.ORF.at: Was hat diese Panik mit Ihnen und mit der Stadt gemacht?

Kautz: Wir haben uns im Studio verschanzt, vor dem Fernseher, und waren fassungslos. Es kamen ja auch schon die ersten Videos von der Schießerei und wir waren alle geschockt. Keiner wusste, was los ist. Die Stadt war relativ schnell geisterhaft. Alle Züge wurden eingestellt. Direkt neben dem Studio sind Bahngleise und plötzlich fuhr kein einziger Zug mehr. Das einzige, was man draußen gehört hat, waren Polizeisirenen und Hubschrauber. Man hatte ein totales Ausnahmezustandgefühl. Ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Angst. Das war ein ganz grauenhaftes Gefühl.

noe.ORF.at: Wie lange haben Sie sich im Studio verschanzt?

Kautz: Wir blieben bis Mitternacht im Studio. In der Nacht haben wir uns dazu entschlossen, doch nachhause zu fahren. Da hieß es dann langsam, dass es anscheinend doch nur ein Täter war. Vorher hieß es ja die ganze Zeit, dass es mehrere Täter waren, die alle auf der Flucht sind. Das war natürlich extrem beunruhigend. Nachdem es hieß, dass es doch nur einer war und der tot aufgefunden wurde, haben wir uns alle rausgetraut, wurden aber direkt wieder geschockt. Wir sind vor die Tür und in der Sekunde kam eine Riesenpatrouille von Polizeiwägen, die mit Sirenen vorbeigerast sind. Man hatte ein wahnsinnig mulmiges Gefühl. Wir sind dann alle ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren, kamen zum Glück alle gut an. Ich muss sagen, es war wirklich ein ganz schreckliches Horrorgefühl. Wenn man die Stadt, die man so liebt und in der man wohnt, plötzlich in so einem Ausnahmezustand sieht - das war unheimlich gruselig.

Julia Kautz

Sascha Wernicke

Kautz: „München ist jetzt erstmal erschüttert. Das wird noch eine zeitlang andauern.“

noe.ORF.at: Wie kann man sich das vorstellen, wenn in München plötzlich der gesamte öffentliche Verkehr stillsteht?

Kautz: Die Taxis hatten auch das Verbot, Leute mitzunehmen, daher mussten alle zu Fuß nach Hause gehen. Das sah ganz komisch aus, wie eine Völkerwanderung. Auf der einen Seite still und ausgestorben, auf der anderen Seite aber diese vielen Leute, die nach Hause laufen mussten. Gruselig war auch, dass wir immer wieder von Bekannten aus der Stadt Nachrichten bekommen haben, die erzählt haben, dass sie gesehen haben, wie vom Hauptbahnhof ganz viele schreiende Menschen davongelaufen sind. Dann dachte man immer, dass dort auch geschossen wird. Aber im Endeffekt ist einfach nur Panik ausgebrochen. Die anderen Schießereien wurden nie bestätigt. Offenbar war ganz München in Angst und Panik.

noe.ORF.at: Haben Sie sich selbst sicher gefühlt?

Kautz: Ich habe mich insofern in Sicherheit gefühlt, als ich drinnen geblieben bin. Aber ich hatte schon das Gefühl, wenn ich jetzt auf die Straße gehe und mit dem Auto nach Hause fahre, was kann passieren. Man stellt sich Fragen, mit denen man sich sonst nie beschäftigt hat - wie: Kann ich in meinem Auto erschossen werden? Das ist schon sehr schlimm, wenn man sich selber solche Fragen stellen muss.

noe.ORF.at: Waren Sie heute schon draußen. Wie ist es heute in den Straßen von München?

Kautz: Ich war noch gar nicht vor der Tür, weil ich gerade noch so ein mulmiges Gefühl hatte. Ich werde aber meinen Tag ganz normal begehen. Es hilft ja nichts, man kann sich nicht in der Wohnung einsperren. Ich war ab 7.00 Uhr wach und habe einfach den Fernseher aufgedreht und die Nachrichten angeschaut. München ist jetzt erstmal erschüttert und das wird auch eine zeitlang andauern. Ich habe auch mitbekommen, dass Veranstaltungen und Feste, die für das Wochenende geplant waren, abgesagt wurden. Mein tiefstes Mitgefühl gehört nun all jenen Menschen, die bei der Tragödie ihre Angehörigen verloren haben und hoffe, dass die Verletzten bald genesen.

Das Gespräch führte Hannes Steindl, noe.ORF.at

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