Landestheater auf der Suche nach „Utopia“

Das Theaterkollektiv YZMA nimmt Thomas Morus’ 1516 erschienenen Roman „Utopia“ zum Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise zu neuen, heutigen Utopien. Die Uraufführung am Landestheater Niederösterreich ist am Samstag.

Wie wollen wir leben? „Krisen und Kriege, die Brutalität des globalen Kapitalismus und die Ausbeutung unserer Ressourcen prägen unsere Zeit. Mit einzelnen Reformen ist es nicht getan. Wir müssen die Zukunft neu denken und grundlegende Veränderungen ins Werk setzen, um den Problemen der Gegenwart beizukommen“, heißt es auf der Website des Landestheaters Niederösterreich über „Utopia“.

„Utopia“

Mit Zeynep Bozbay, Tim Breyvogel, Florian Haslinger, Johanna Wolff.
Konzept und Recherche: YZMA Theaterkollektiv; Inszenierung: Milena Michalek; Bühne und Kostüme: Elisabeth Weiß; Video: Sven Albertini

Thomas Morus schreibt in seinem wegweisenden Roman „Utopia“ über einen Seefahrer, der in weiter Ferne die Insel Utopia entdeckt und dort eine ideale Gesellschaft verwirklicht. Detailreich, bisweilen humoristisch und geradezu prophetisch schilderte Thomas Morus vor 500 Jahren eine Welt der Zukunft, die aus der Perspektive der Entstehungszeit völlig unrealistisch wirkte, aber in vieler Hinsicht unserer heutigen Demokratie erstaunlich nahe kommt. Für das Wiener Theaterkollektiv YZMA ist der Roman der Ausgangspunkt für eine Entdeckungsreise zu heutigen Utopien, Regie führt Milena Michalek.

Ensemble Utopia Landestheater Sankt Pölten

Alexi Pelekanos

noe.ORF.at: In der Theaterwerkstatt des Landestheaters Niederösterreich wird ab 4. März „Utopia“ nach Thomas Morus gezeigt, eine Stückentwicklung von YZMA. Wie kann man sich diese „Stückentwicklung“ vorstellen, was bleibt vom Originaltext übrig?

Milena Michalek: Wir haben versucht, die Themen, die Thomas Morus in seiner „Utopia“ aufmacht, auf ihre Wesentlichkeit hin aufzuspüren, zu überprüfen und mit einem zeitgenössischen Blick zu betrachten. Vom Originaltext ist kaum etwas übrig geblieben, trotzdem oder genau deswegen würde ich sagen, liegt der Text unter dem ganzen Abend. Der Geist von Thomas Morus ist anwesend, indem unser Abend eine Haltung zu Utopien einnimmt.

noe.ORF.at: Warum haben Sie sich für Thomas Morus‘ „Utopia“ als Ausgangspunkt entschieden? Es gibt doch viele andere Werke, die sich mit diesem Thema beschäftigen, von Platons „Der Staat“ über Huxleys „Schöne neue Welt“ bis zu Attalis „Die Welt von morgen“.

Michalek: Der Vorschlag, „Utopia“ als Grundlage zu nehmen, kam seitens des Landestheaters Niederösterreich von der Dramaturgin Julia Engelmayer. Was uns besonders an diesem Werk interessiert, ist einerseits die Gründungsgeste: die „Utopia“ ist die erste literarische Utopie.

Milena Michalek Regisseurin

Landestheater Niederösterreich

Milena Michalek: „Ich wünsche mir eine selbstbewusstere Gesellschaft in der Zukunft, eine sensiblere, aber auch eine mutigere Gesellschaft“

Das Werk markiert die Geburtsstunde aller utopischen Literatur. Andererseits zeichnet „Utopia“, im Vergleich zu den staatstheoretischen Überlegungen Platons oder Hobbes oder zu den dystopischen Visionen Huxleys, die Verbindung von radikaler Kritik am bestehenden System (Morus meinte natürlich hauptsächlich die englische Adelsgesellschaft von 1516) und träumerischer Fiktion einer besseren Welt aus. Diese Kritik am Bestehenden mittels einer schöpferischen Fiktion hat uns vor allem interessiert.

noe.ORF.at: „Utopia“ ist eine Stückentwicklung von YZMA, einem Wiener Theaterkollektiv. Wie läuft die Probenarbeit ab?

Michalek: Wir arbeiten in drei Phasen. Zuallererst lesen wir gemeinsam und recherchieren zum Thema. Dann wird über zwei Wochen improvisiert. In langen Improvisationen (bis zu zwei Stunden) lassen wir das geordnete Denken hinter uns und es wird ein assoziativer Raum geschaffen, in dem sich Themen, Situationen und Emotionen vermengen und die Gedanken Haken schlagen dürfen.

Diese Improvisationen werden alle per Mikro aufgenommen und es wird alles transkribiert. Für „Utopia“ hatten wir Textmaterial von 680 Seiten. Aus diesem Material und wenigen Fremdtexten wird dann das Stück montiert. Dieses Stück proben wir schließlich, als wäre es ein klassischer Theatertext. Neue oder vertiefende Situationen werden auf den Text gelegt, die Spontanität wird neu kontextualisiert.

noe.ORF.at: Sie haben bereits fünf Arbeiten mit YZMA gemacht. Was ist für Sie als Regisseurin das Besondere und Herausfordernde daran?

Michalek: Ich kenne nur die Arbeit mit YZMA. Anders habe ich als Regisseurin noch nicht gearbeitet. Ich würde sagen, das Besondere an der Arbeit ist zugleich das Herausfordernde: Die Probenzeit ist stets gezeichnet von Krisen, Kapitulationen und Ratlosigkeit. Gleichzeitig herrscht ein ungemeines Vertrauen einander und der gemeinsamen Aufgabe gegenüber. Das macht es möglich, die Krise als Initiation zu betrachten und die Ratlosigkeit schließlich zu überwinden.

Landestheater Niederösterreich Utopia Ensemble

Alexi Pelekanos

„Utopia“ mit Tim Breyvogel, Florian Haslinger, Johanna Wolff und Zeynep Bozbay (v.l.)

noe.ORF.at: Martin Pesl hat in der Wochenzeitung „Falter“ eine Situation während einer „Utopia“-Probe beschrieben, in der eine Krisensituation durch eine unkonventionelle Methode bewältigt wurde: 45 Minuten haben das Ensemble und Sie zum Soundtrack von „Kill Bill Vol. 1“ auf der Bühne gesagt, was nicht in Ordnung gefunden wird, teilweise laut, teilweise unter Tränen. Das ist nicht gerade eine alltägliche Probensituation. War das für Sie und YZMA eine ungewöhnliche Situation? Wie lösen Sie Meinungsunterschiede innerhalb des Kollektivs?

Michalek: Diese Situation war tatsächlich eine sehr außergewöhnliche. Wir lösen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte natürlich eigentlich nicht auf der Bühne, sondern am Tisch. In dieser spezifischen Situation ging es aber um eine inhaltliche Krise. In der Impro machte sich eine passiv-aggressive Stimmung breit, weil man das Gefühl hatte, zu Utopien gibt es eigentlich nichts zu sagen. Jeder konkrete Vorschlag, wie man den Ist-Zustand verbessern könnte, wirkt in Anbetracht des unbegreiflichen Grauens, das jeden Moment auf der Welt stattfindet, unbefriedigend klein. Das Unvermögen, etwas Konkretes zu formulieren, und den Ort zu benennen, an dem die Veränderung beginnen muss, kann ganz schön quälend sein.

Ich habe versucht, durch die Musik und die Aufforderung, dass alle in ein Mikro sprechen sollen, was sie stört, dieses quälende Unvermögen produktiv zu machen. Dabei war es, glaube ich, wichtig, dass ich damit beginne. Auch ich muss mich der Probe aussetzen. Ich kann nicht im Dunkeln sitzen und erwarten, dass die anderen liefern, sondern ich muss mich angreifbar machen. Dass die vier SchauspielerInnen dieses Angebot meinerseits so offenherzig, weich und ernsthaft angenommen haben und aus der Situation so einen berührenden und ehrlichen Moment gemacht haben, hatte ich mir selbst nicht erhofft. Das hat mit der Eigendynamik des Bühnenraums zu tun, denke ich. Situationen können dort unerträglich werden, aber man kann sie in einer großen Geste auflösen.

Landestheater Niederösterreich Utopia Ensemble

Alexi Pelekanos

YZMA: „Wir müssen die Zukunft neu denken und grundlegende Veränderungen ins Werk setzen, um den Problemen der Gegenwart beizukommen“

noe.ORF.at: Wie wollen wir leben? „Wir müssen die Zukunft neu denken und grundlegende Veränderungen ins Werk setzen, um den Problemen der Gegenwart beizukommen“, kann man auf der Website des Landestheaters über das Stück lesen. Welche Vorstellungen haben Sie von dieser Zukunft?

Michalek: Ich wünsche mir eine bewusstere Gesellschaft in der Zukunft. Eine durchlässigere, sensiblere Gesellschaft. Aber auch eine mutigere, selbstbewusstere. Wir haben in den Proben sehr viel über Angst und Wut gesprochen. Darüber, was uns stört, und darüber, was uns an der Änderung dessen hindert. Vielleicht ist Mut das Stichwort.

noe.ORF.at: Agnes Heller zweifelt in ihrem jüngsten Buch „Von der Utopie zur Dystopie“, ob Utopien überhaupt erstrebenswert sind. Zu Ende gedacht, hätten die meist totalitären Charakter. Es gebe kein Rezept für die Zukunft, heute weniger denn je, meint die Philosophin. Teilen Sie die Hellers Ansicht?

„Utopia“

Landestheater Niederösterreich, Theaterwerkstatt, St. Pölten
Premiere: 4. März 2017 (19.30 Uhr) Weitere Termine: 10., 11. und 23. März, 19. April, 3. Mai

Michalek: Auf jeden Fall! Zu diesem Schluss sind wir auch gekommen und die Gefahr, dass aus einem „perfekten Staat“ ein totalitärer Ort wird, der keine Vielfalt und auch keine Entwicklung mehr zulässt, wird an dem Abend auch thematisiert. Man sieht ja gerade in den USA, wie aus der Sehnsucht nach einem besseren Leben in Verbundenheit mit einer klaffenden Angst, die teilweise begründet, teilweise von Machthabern bewusst geschürt wird, eine restriktive, totalitäre Struktur erwächst. Dennoch ist die Frage, ob man auf die Unvorhersehbarkeit der Zukunft eben mit Angst oder mit Mut antwortet. Vielleicht geht es gar nicht darum, die Utopie zu formulieren und zu ihr zu streben, sondern eher, überhaupt wieder in ein schöpferisches Streben zu kommen.

noe.ORF.at: Was wird sich in der Zukunft – nehmen wir die nächsten 50 Jahre – ändern oder ändern müssen?

Michalek: „Die Erde verträgt uns nicht“, sagt Heini Staudinger und er hat natürlich Recht! Wenn wir keinen anderen Umgang mit der Umwelt, dem Müll, den Energiequellen, den Lebensmitteln einleiten, wenn wir keinen anderen Umgang untereinander als Menschen einleiten, zerstören wir unsere Lebensgrundlage.

Die Fragen an Milena Michalek stellte Reinhard Linke, noe.ORF.at.

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