Burgtheater-Regiedebüt für Christina Gegenbauer

Mit „Waisen“ von Dennis Kelly debütiert am Donnerstag Christina Gegenbauer als Regisseurin am Wiener Burgtheater. „Das Stück ist brisant“, sagt die 30-Jährige, die aus Herzogenburg (Bezirk St. Pölten) stammt.

„Das Stück ist brisant, weil es die Aufspaltung in ein ‚Wir‘ und ein ‚Die‘, die gerade in unserer Gesellschaft stattfindet, thematisiert und aufzeigt, wie Schwarz-Weiß-Denken in einer Gewaltspirale mündet“, sagt Gegenbauer.

Wie weit gehst du, um deine Liebsten zu beschützen?

Das Stück des 48-jährigen Briten, der auch für Drehbücher zu Sitcoms und TV-Serien bekannt ist, wurde 2009 uraufgeführt und von den Medien als „Erforschung von Gewalt in urbanen Räumen“ aufgenommen. Es handelt von einem Gewaltverbrechen, das die drei Protagonisten in einen moralischen Konflikt zwingt und dem Publikum die Frage aufdrängt: „Wie weit gehst du, um deine Liebsten zu beschützen?“, wie es die junge Regisseurin formuliert.

Zur Handlung: Das jüngere Ehepaar Danny und Helen freut sich über eine zweite Schwangerschaft, als Helens Bruder Liam das vermeintliche Idyll unterbricht. Blutüberströmt berichtet er von einem Zwischenfall mit einem jungen Mann mit Migrationshintergrund. Seine Schilderungen erhärten den Verdacht, dass es sich bei dem Ereignis um mehr handelt, als Liam zunächst zugeben will.

In der Folge gerät das Trio in einen moralischen Konflikt zwischen Loyalität und Abscheu, der das bisherige Leben der Beteiligten fortan auf den Kopf stellt. „Es sind drei sehr unterschiedlich denkende und agierende Figuren, die um die Empathie des Publikums buhlen. Durch die Beobachtung dieser beurteilt der Zuschauer die Extremsituation und befragt sich selbst, wie er handeln würde“, schildert Gegenbauer, die das Stück als Thriller bezeichnet, aus dem es „eine absurde Komik herauszukitzeln“ gelte. In dem Dreipersonenstück spielen Irina Sulaver (Helen), Christoph Radakovits (Danny) und Valentin Postlmayr als Liam.

Gegenbauer: „Kein Theatermuseum auf der Bühne“

„Dennis Kelly hat das Stück sehr intelligent konstruiert, da man sukzessiv immer mehr über die Figuren erfährt und sich die Handlung sehr spannend entblättert“, sagt Gegenbauer, die noch einen Pluspunkt hervorhebt: „Es bedarf keiner (Vor-)Kenntnisse des Theaterkanons“, so die Regisseurin, die „kein Fan von einem Theatermuseum auf der Bühne“ ist: „Ich bevorzuge moderne Texte, was nicht heißt, dass ich nicht auch einen Klassiker oder einen älteren Text inszenieren würde, wenn mir das Thema für unsere Zeit wichtig erscheint.“ Neben Bühnenstücken beschäftigt sich Gegenbauer auch mit Ausstellungskonzepten, Performances und Installationen.

Gegenbauer wurde in St. Pölten geboren und studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien. Während ihres Studiums wurde ihr klar, dass sie sich nicht nur im wissenschaftlichen Bereich mit Theater beschäftigen möchte. Seit 2017 arbeitet sie als Regieassistentin am Burgtheater. Davor begann sie Regie zu führen, etwa am Staatstheater Nürnberg, Theater Regensburg und Theater Münster - mehr dazu in Ritt ins Innere eines Alptraums: „Die Domäne“ (noe.ORF.at, 23.9.2018). „Hin und Her“ von Ödön von Horvath inszenierte sie 2017 für das Viertelfestival Niederösterreich im österreichisch-slowakischen Grenzgebiet Angern an der March und Zahorska Ves - mehr dazu in Grenzüberschreitendes Theater: „Hin und Her“ (noe.ORF.at; 30.7.2017).

Christina Gegenbauer Regisseurin Burgtheater

APA/Herbert Neubauer

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noe.ORF.at: Teilen Sie Dennis Kellys Ansicht, dass es in unserer Kultur ein starkes Waisengefühl gibt, und zwar in dem Sinn, dass in unserer Gesellschaft niemand auf den anderen aufpasst?

Christina Gegenbauer: Ich teile die Annahme, dass viele das Gefühl haben, dass auf sie nicht geachtet oder aufgepasst wird. Allerdings glaube ich – wie übrigens Dennis Kelly auch – dass dieses Gefühl unbegründet ist und im Fall des Falles (in Österreich) ein anderer Mensch oder eine Institution sich um einen kümmert oder Schritte unternimmt, damit Hilfe in Kraft tritt.

„Waisen“ von Dennis Kelly
Regie: Christina Gegenbauer, Bühne: Frank Albert, Kostüme: Anneliese Neudecker, Musik: Matthias Jakisic. Mit Irina Sulaver, Christoph Radakovits und Valentin Postlmayr, Premiere am 4. April, Vestibül des Burgtheaters. Nächste Aufführungen: 8., 13., 23., 28. April, jeweils um 20.00 Uhr.

noe.ORF.at: Fühlt man sich als „anderer“ gegenüber der Mehrheit der Menschen schutzlos, ausgeliefert, machtlos, nicht akzeptiert?

Gegenbauer: Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, einer Minderheit anzugehören. Sich selbst als anders zu empfinden als der Rest ... Das fängt, je nachdem, bei nicht akzeptiert an und geht bis zu schutzlos ausgeliefert.

noe.ORF.at: Kann man die Ängste dieser Menschen nachvollziehen? Wie entstehen sie?

Gegenbauer: Meiner Meinung nach kann jeder empathische Mensch die Angst eines anderen, der nicht dazugehört, nachvollziehen. Die Figur Liam fühlt sich schutzlos und vom Staat im Stich gelassen. Angst ist für mich ein Gefühl, das mit Ohnmacht einhergeht. Um das Empfinden von Handlungsfähigkeit zu erlangen ist es - wie der Kulturanthropologe Klaus Schönberger sagt - rational, nach unten zu treten.

Man erhebt sich selbst in der sozialen Hierarchie, indem man jemanden ausgrenzt, das suggeriert Handlungsfähigkeit. Dafür sucht man sich ein Opfer, das nicht zur eigenen Gruppe gehört, jemanden, der einem fremd ist. Liams Opfer ist ein Mensch mit Migrationshintergrund.

Christina Gegenbauer Regisseurin Burgtheater

APA/Herbert Neubauer

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noe.ORF.at: In „Waisen“ werden Grenzen überschritten, moralische und gesetzliche. Können Sie verstehen, dass Liams Schwester und sein Schwager ihm helfen, ohne wirklich zu wissen, was er gemacht hat?

Gegenbauer: Ohne es zu rechtfertigen, dass gesetzliche und moralische Grenzen überschritten werden, kann ich aus der Perspektive einer Schwester, die ihren Bruder deckt, verstehen, warum sie so handelt. Danny geht zunächst davon aus, dass Liam die Wahrheit sagt. Er hadert über das ganze Stück sehr mit seinem Handeln. Ich finde den Konflikt zwischen seinen moralischen Überzeugungen und der Liebe zu seiner Familie sehr nachvollziehbar - auch wenn ich nicht weiß, ob ich mich genauso verhalten würde.

noe.ORF.at: Wo sind dem Handeln des Menschen Grenzen gesetzt? In der Rechtsordnung? Oder darf/kann er auch unter bestimmten Voraussetzungen diese Grenzen überschreiten?

Gegenbauer: In meinem Leben hat sich bewährt, dass meine Freiheit endet, wo die eines anderen beginnt. Grundsätzlich bin ich der Überzeugung, dass die Rechtsordnung gewahrt werden muss. Doch selbstverständlich gilt es auch, diese Rechtsordnung zu hinterfragen, sich gegebenenfalls für ihre Änderung einzusetzen und sich im extremsten Fall - etwa in totalitären Unrechtsstaaten - über sie hinwegzusetzen. Um in einem solchen System Menschen zu retten oder für andere einzustehen, Grenzen zu überschreiten, finde ich nicht nur akzeptabel, sondern notwendig.

noe.ORF.at: Woran merken Sie eine Entsolidarisierung der Menschen?

Gegenbauer: Es scheint mir immer weniger Verständnis für die Schwächeren in unserer Gesellschaft zu geben. Gespräche auf der Straße verändern sich, Gesetze werden zulasten von Schwächeren geändert, die Sprache des öffentlichen Diskurses wird aggressiver.

Das Gespräch mit Christina Gegenbauer führte Reinhard Linke, noe.ORF.at

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