Meditatives Pornocasting beim donaufestival

Ein Spiel mit Tabus und Grenzen hat es am Freitagabend beim donaufestival in Krems gegeben. Das Kollektiv El Conde de Torrefiel hat „KULTUR“ uraufgeführt: eine eigenwillige Versuchsanordnung über Anspruch und Sex.

Tanya Beyeler und Pablo Gisbert, die Köpfe hinter der in Barcelona ansässigen Performancegruppe, wissen jedenfalls, wie man Erwartungen schürt. Der Einlass in die Halle 3 des Messegeländes wurde erst ab 18 Jahren gewährt, die ausgehändigten Kopfhörer erzeugten zudem ein verschwörerisches Gemeinschaftsgefühl, obwohl dann doch jeder für sich die folgende Stunde durchlebte. Im Halbkreis aufgefädelt, beobachtete man ein Castingsetting mit brauner Ledercouch sowie reichlich Scheinwerfern und Kameras, während ein junger Mann an einem seitlich positionierten Schreibtisch arbeitete.

El Conde de Torrefiel setzten auf Tabubruch

Konterkariert wurde diese ruhige Szenerie durch die Stimme, die an die Ohren drang: Sie erzählte von einer Deutschlehrerin, die sich nebenbei als Autorin betätigt und über ihrem neuen Buch brütet. Dabei schweifen aber die Gedanken, landen bei Spotify und Netflix, einer veränderten Kulturlandschaft oder der digitalen Präsentation unserer Leben im World Wide Web. Erst spät fanden Bühnengeschehen und Flüsterstimme zusammen: Eine junge Frau, die Protagonistin des Romans, trat ins Scheinwerferlicht, entblätterte sich nach einem kurzen Gespräch, und schon begann das Casting für einen Pornofilm - reichlich Fellatio inklusive.

El Conde de Torrefiel zeigt KULTUR beim donaufestival

Tanya Beyeler

Das Kollektiv El Conde de Torrefiel zeigte beim donaufestival „KULTUR“

Es entstand ein eigenartiger Eindruck: Die ruhige, bedächtig erzählende Stimme im Ohr, begleitet von leisem Hintergrundrauschen und Laptoptippen einerseits, und dann die expliziten Sexszenen vor Augen, die dennoch eine beiläufige Wirkung verströmten. Und wofür? Letztlich wohl nur, um zu zeigen, dass sich Moral und Wertigkeiten verschieben. „Dinge, die jetzt überspannt wirken, werden in der Kultur des 22. Jahrhunderts ganz normal sein“, resümierte folglich die Autorin abschließend. Da waren die Körper schon längst wieder verhüllt und das Publikum um einiges spärlicher. „KULTUR“ muss ja nicht für jeden dasselbe sein.

Ligia Lewis bediente sich bei den Gebrüdern Grimm

Einigen konnten sich viele allerdings auf „Water Will (in Melody)“, jedenfalls dem Applaus nach zu urteilen. Die in Berlin lebende Tänzerin und Choreografin Ligia Lewis hat sich mit drei Mitstreiterinnen vom „Eigensinnigen Kind“ der Gebrüder Grimm inspirieren lassen. Das morbid-gruselige Kurzmärchen über ein totes Mädchen, das sein Ärmchen aus dem Grab streckt, zog sich fragmentarisch durch das Stück, wurde mit teils zackigen und slapstickartigen Bewegungen interpretiert, um sich sukzessive aufzulösen. Denn statt der Erde war es schlussendlich Wasser, das den Ton angab: Die zweite Hälfte wurde im Sprühnebel mehr gerutscht als getanzt, während die vier Performerinnen wie Geister durch die Dunkelheit zogen. Ein poetisches Unterfangen, für dessen inhaltlichen Überbau aber zugegebenermaßen viel Fantasie nötig war.

Ligia Lewis beim donaufestival

Katja Illner

Ligia Lewis präsentierte „Water Will (in Melody)“

Wasser und das Jenseits spielen auch andernorts eine gewichtige Rolle: Teil des diesjährigen Ausstellungsprogramms in Krems sind Videoarbeiten von Lola Gonzalez. Die Französin ist damit in der Galerie am Eck vertreten, wo etwa „Les courants vagabonds“ umherziehen und sich die Toten nahe am Wasser materialisieren. In „Veridis quo“ blickt man wiederum einer Gruppe junger Menschen bei merkwürdigen Schießübungen und Laufspielen in einem Landhaus über die Schulter. Die wortlose Szenerie entwickelt eine ganz besondere Atmosphäre und wird spätestens mit dem Verlust des Augenlichts für viele der Protagonisten zum unheimlichen Ratespiel, was wohl als nächstes kommen könnte.

Stoische Godflesh und vielseitige Eartheater

Nichts mit Uneindeutigkeit anfangen kann Justin Broadrick - besonders nicht, wenn er mit Kollege G.C. Green als Godflesh auf der Bühne steht: Bereits 30 Jahre ist es her, dass das bis heute wegweisende Debüt „Streetcleaner“ erschienen ist und nicht nur Industrial maßgeblich beeinflusst hat. Dieser brutale, stumpfe Sound walzte sich gestern durch den Stadtsaal, wozu stoisch die Häupter auf und nieder gingen, während Songs wie „Merciless“ oder das abschließende „Like Rats“ begierig aufgesogen wurden. Diese Konsequenz macht auch heute noch verdammt viel Spaß.

Die Vermengung von Harmonie und Härte gelang direkt im Anschluss Alexandra Drewchin alias Eartheater: Die New Yorker Künstlerin ließ Harfenklänge auf verstörende Sounds treffen, wusste aber auch nur auf eine Akustikgitarre setzend zu überzeugen, was wohl in erster Linie mit ihrer Bühnenpräsenz zu tun hatte. Zu den durchwegs spannenden Musikacts gehörten gestern auch noch die Münchner Jazzer Ark Noir, die in der Minoritenkirche gehörig aufdrehten, sowie Produzentin Hüma Utku. Ihr Electro-Verständnis speiste sich stark aus flächigen Klängen und leicht verschobener Dynamik. Schließlich wird die Konvention beim donaufestival gerne mal links liegen gelassen.

Christoph Griessner, Austria Presse Agentur

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