NS-Verbrechen in Mauer größer als angenommen

Mindestens 1.800 Patienten der Psychiatrieklinik Mauer-Öhling (Bezirk Amstetten) sind im Nazi-Regime ermordet worden. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung tausender Patientenakten. Ein Mahnmal erinnert nun an sie.

Gertraud Raffetseder war 19 Jahre alt, als sie im Sommer 1944 in der „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer-Öhling (Bezirk Amstetten) starb. In ihrer Krankenakte wird als offizielle Todesursache „akute Herzschwäche“ und „Knochentuberkulose“ vermerkt. In Wahrheit starb die junge Frau aus Amstetten durch Aushungern. Sie wog nur noch 29 Kilogramm.

Gertraud Raffetseder Portrait

Privatarchiv Josef Hofer

Gertraud Raffetseder etwa zwei Jahre vor ihrem Tod

Es sind Schicksale wie jenes von Gertraud Raffetseder, die der Historiker Philipp Mettauer vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs aufgearbeitet hat. Vier Jahre lang wertete er etwa 36.000 Krankenakten aus und kam zu erschreckenden Ergebnissen: „Zwischen 1938 und 1945 sind durch ‚Mauer-Öhling‘ zwischen 6.000 und 8.000 Patienten ‚gegangen‘. Rund 1.300 kamen gesichert zur Ermordung nach Hartheim in Oberösterreich, weitere rund 300 nach Gugging (Bezirk Tulln), wo sie getötet wurden“, sagt der Historiker.

Morde auch innerhalb der Pflegeanstalt

In „Mauer-Öhling“ stieg die Sterberate bei den aufgenommenen psychisch Kranken von fünf Prozent unmittelbar vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich auf etwa 18 Prozent im Jahr 1941 an. „Mauer-Öhling“ war die drittgrößte Klinik der „Ostmark“, in der im nationalsozialistischen System Psychiatrie-Patientinnen und Patienten ermordet wurden. „Da gab es auch die ‚E-Kost‘, die ‚Entzugs-Kost‘. Die Patienten nahmen zum Teil durch Nahrungsentzug binnen weniger Monate 20 Kilogramm ab. Sie starben an Infektionen, die Lungenentzündung war ein ‚Klassiker‘“, sagt Mettauer.

Fliegeraufnahme Mauer-Öhling 1942

Privatarchiv Philipp Mettauer

Eine Fliegeraufnahme der Psychiatrieklinik 1942

Dass viele der Patientinnen und Patienten mit Bussen nach Hartheim und Gugging transportiert und dort getötet wurden, sei schon länger bekannt. Neu ist, dass zwischen November 1944 und April 1945 innerhalb der „Heil- und Pflegeanstalt“ Mauer weiter gemordet wurde: „Es gab rund 200 Opfer. Dazu gibt es Namenslisten. Der ‚Übersterblichkeit‘ im Vergleich zu der Zeit vor 1938 dürften rund 600 Patienten zum Opfer gefallen sein“, sagt Mettauer.

„Nur Befehle ausgeführt“

Einer der Hauptakteure dieser Verbrechen war der NS-Arzt Emil Gelny. Er ermordete bis kurz vor Kriegsende gemeinsam mit Ärzten und Pflegern hunderte Patientinnen und Patienten mittels überdosierten Medikamenten, Injektionen und eines von ihm entwickelten Elektroschockgeräts. Gelny musste sich für seine Verbrechen nie verantworten, er floh nach Bagdad und starb dort 1961.

Emil Gelny NS-Arzt

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands

NS-Arzt Emil Gelny auf einem Foto in einem Fahndungsbuch der damaligen Staatspolizei Wien

Viele der Pflegerinnen und Pfleger plädierten in einem Gerichtsprozess zu den Euthanasie-Verbrechen, der 1946 bis 1948 geführt wurde, auf nicht schuldig und ließen sich über Gutachten für unzurechnungsfähig erklären. Ein Oberpfleger gab an „die Patienten nicht selbst getötet, sondern nur Befehle ausgeführt zu haben“. Er sei „auch nur ein einziges Mal bei einer solchen ‚Liquidierung‘ dabei gewesen“. Er wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt, dann aber vorzeitig entlassen.

Die Zahl der Ermordeten war so hoch, dass der Wald neben dem Friedhof gerodet wurde, um Platz für die Leichen zu schaffen. Eine Untersuchung der sterblichen Überreste samt Identifizierungsversuchen via Forensik steht in „Mauer-Öhling“ noch aus. Das könnte der nächste Schritt in der Aufarbeitung der NS-Zeit in der Psychiatrieklinik sein. Nach dem Krieg wurde im Ort über die Verbrechen geschwiegen.

Friedhof Mauer-Öhling

Luftbilddatenbank Dr. Carls GmbH

Die weiße Fläche in der linken Bildhälfte zwischen Friedhof und Wald wurde für Massengräber gerodet

Mahnmal für die Opfer im Landesklinikum

Für seine Forschung führte Philipp Mettauer Interviews mit Angehörigen der Opfer und Pfleger. So gab eine Einheimische an: „Man hat gewusst, dass Menschen ums Leben gekommen sind und dass da auch Ärzte gekommen sind, die die Leute ausgesucht haben.“ Eine andere erzählt von einer Pflegerin, die damals zu den Kindern dort sagte: „Lauft weg, versteckt euch im Wald! Jetzt kommt wieder das Auto, das holt euch alle ab.“

60 Schülerinnen und Schüler der Fachschule Amstetten arbeiteten bei Philipp Mettauers Projekt mit. Sie sammelten die Erinnerungen der Menschen in ihrer Heimat und möchten so die Mauer des Schweigens brechen. Ein erster großer Schritt wurde dafür getan: Im Gedenken an die Opfer wurde am 8. Mai, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, ein Mahnmal am Gelände des Klinikums enthüllt. Es wurde vom niederösterreichischen Künstler Florian Nährer gestaltet.

Gerhard Karner (ÖVP), zweiter Präsident des niederösterreichischen Landtags, enthüllte das Mahnmal: „Es ist kein einfaches Gedenken aber ein notwendiges Gedenken, danke für ein lebendiges und damit gleichzeitig mahnendes Gedenken, das auch in Zukunft immer wach und hell bleiben muss.“

Mahnmal in Mauer

ORF

Das Mahnmal besteht aus alten Grabsteinen aus der Umgebung

NS-Euthanasie: Tötung beeinträchtigter Menschen

Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen galten in der Zeit des Nationalsozialismus als unwertes Leben. Die Maschinerie, welcher gewissenlose Ärzte und Pflegepersonal die Patienten auslieferten, umfasste Zwangssterilisationen genauso wie den Abtransport zur geplanten Ermordung im Schloss Hartheim im Rahmen der sogenannten T4-Tötungsaktion. „Im August 1941 wurde das T4-Programm eingestellt. Das Morden erfolgte zunehmend ‚dezentral‘ in den einzelnen Anstalten“, erklärt Philipp Mettauer. Die psychisch Kranken wurden vernachlässigt, misshandelt und getötet.

Nina Pöchhacker, noe.ORF.at

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