Lendvai: „Vorhänge sind im Kopf geblieben“

Das Europa-Forum in Göttweig feiert sein 20-Jahr-Jubiläum, zum 20. Mal wird es von Paul Lendvai moderiert. Dessen Vision eines offenen Europas hat sich nicht gänzlich erfüllt: „In vielen Köpfen sind die Vorhänge aus der Vergangenheit geblieben.“

Das Thema des Europa-Forums Wachau lautet heuer „Stößt Europa an seine Grenzen? Zur Rolle Europas in der Welt.“ Das Forum versteht sich als eine Plattform des Dialogs und der Meinungsbildung. „Nur durch die Gespräche können die Entscheidungsträger in Europa Menschen kennen lernen“, sagt Paul Lendvai in der Radio Niederösterreich-„Nahaufnahme“ mit Reinhard Linke. „Es ist lebenswichtig für Österreich solche Kontakte zu haben, aber auch für die kleinen Staaten. Es ist besonders wichtig, einen echten Dialog zu haben - nicht einen mit Schlagobers übergossenen Austausch von Banalitäten, was leider sehr oft der Fall ist.“

Im Stift Göttweig werde mit der Veranstaltung „im Kleinen“ Europa- bzw. Weltpolitik geschrieben, sagt Lendvai. „Es wurde Geschichte gemacht und vor allem wurde die Bedeutung der Regionen bewiesen - dass eine Region wie zum Beispiel Niederösterreich auch internationale Politik machen kann.“

„Vorhänge der Vergangenheit sind geblieben“

Das erste Treffen im Stift Göttweig fand 1996 statt. Europa sah damals ganz anders aus. Heute zählen 28 Staaten zu der Staatengemeinschaft. Lendvai, der das Europa-Forum seit seinem Beginn moderiert, über seine Vision im Jahr 1996 von Europa: „Ich habe gehofft, dass es ein offenes Europa sein wird - nicht nur mit offenen Grenzen, sondern auch offenen Köpfen. Leider sind in vielen Köpfen und Herzen die Vorhänge aus der Vergangenheit dageblieben. Sonst würden wir nicht so starke Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben“, so Lendvai.

„Vor allem hatte ich nicht gedacht, dass der Nationalismus wieder aufleben wird. Der Nationalismus ist ein tödliches Gift, wie wir in den 30er-Jahren gesehen haben. Da gibt es leider Parallelen. Daher sind solche Begegnungen wie Göttweig so wichtig.“

Reinhard Linke und Paul Lendvai

ORF/Anton Leitzinger

ORF-Redakteur Reinhard Linke im „Nahaufnahme“-Gespräch mit Paul Lendvai

„Alles tun, um Nationalismus zu verhindern“

Eines der wichtigsten und am heftigsten Probleme, das auch in Göttweig diskutiert wird, ist die Flüchtlings- und Asylfrage. „Es ist ein sehr großes Problem“, sagt Lendvai. „Weil nichts leichter ist, als die Fremden und Ausländer als Blitzableiter zu benützen. Es gibt überall Unzufriedenheit der Bevölkerung. Da spielt eine Rolle, wie offen man mit den Menschen spricht. Man muss alles tun, um das Wiederaufleben des Nationalismus und Fremdenhasses zu verhindern.“

Lendvai selbst war im Jahr 1957 als Fremder von Ungarn nach Österreich gekommen. „Ich bin kein gutes Beispiel, weil ich von Anfang an hier alles genossen habe. Alles was in meinem langen Leben positiv war, ist in Österreich. Damals war es aber natürlich ein anderes Österreich.“

TV-Hinweis

„Europastudio“ am Sonntag, 14. Juni 2015, um 11.05 Uhr in ORF 2

Für Europa sei es nun am Wichtigsten „das schon Erreichte zu sichern und eine Balance zwischen den Regionen, Staaten und Brüssel zu finden. Das ist eine ständige Arbeit.“ Zu diesem Erreichten gehöre die Eurozone als „sichtbares Zeichen des einheitlichen Europas", die Währung und ein Minimum an Solidarität. Das Wichtigste ist auch Kompromisse zu finden.“

„Europa soll vor eigenen Türen kehren“

Zur Größe der EU meint Lendvai, dass sie „schon zu groß“ sei. „Zuerst sollen alle Balkanstaaten in Ordnung kommen. Ich halte das mit all den Minderheitenproblemen für einen Wahnsinn. Die Europäische Union soll daher in absehbarer Zukunft so bleiben wie sie ist.“ Die Gemeinschaft solle dafür sorgen, dass in den Staaten, wo die Korruption grassiert, wie in Rumänien, Bulgarien und Ungarn bzw. wo die Menschen- und Minderheitenrechte verletzt werden, bessere Zustände herrschen. „Zuerst vor den eigenen Türen kehren“, rät Lendvai.

Österreich ist seit 20 Jahren Mitglied der Europäischen Union. Das habe dem Land „gewaltige Vorteile“ gebracht, meint Lendvai: „Wenn man die Handelsstatistiken anschaut, die Niederlassungen ausländischer Firmen beobachtet und sieht, dass wir in den letzten 15 Jahren zu den Schrittmachern gehörten.“

Portrait Paul Lendvai

Paul Lendvai

Paul Lendvai

Leitet das „Europastudio“ im ORF

Paul Lendvai wurde am 24. August 1929 in Budapest geboren. Nach der Matura begann er neben seinem Jus-Studium im Alter von 18 Jahren auch journalistisch zu arbeiten. Von den Nazis verfolgt, rettete ihn nur ein Zufall vor der Deportation in ein Todeslager im Oktober 1944. In der Zeit danach wurde Lendvai im kommunistischen Ungarn zum glühenden Marxisten und konnte seine journalistische Karriere fortsetzen, bevor er im Zuge seines Militärdienstes denunziert wurde und für ein Jahr in Haft kam.

Erst 1953 wurde Lendvai amnestiert, musste sich allerdings als freier Journalist und Übersetzer sein Einkommen sichern, da er mit einem Berufsverbot belegt wurde. Schließlich setzte er sich nach Österreich ab, da er die politische Lage in seinem Heimatland nicht mehr ertragen habe, wie er in seinen Memoiren schreibt. Von 1957 bis 1982 arbeitete er als Osteuropakorrespondent für „Die Presse“, 1959 erhielt Lendvai die österreichische Staatsbürgerschaft.

Sendungshinweis

„Radio NÖ Nahaufnahme“, 14.6.2015

Hierzulande sollte er sich publizistisch endgültig einen Namen machen, wobei er von 1960 bis 1982 ebenfalls für die Londoner „Financial Times“ tätig war und ab 1973 als Chefredakteur und Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift „Europäische Rundschau“ fungierte. Größere Bekanntheit erlangte er schließlich mit seinen außenpolitischen Kommentaren im ORF, wobei er auch maßgeblich am Aufbau der Osteuroparedaktion des ORF beteiligt war. Ab 1982 war er fünf Jahre lang Chefredakteur der Redaktion für Ost- und Südosteuropa des ORF, von 1987 bis 1998 dann Intendant von Radio Österreich International. Seit 2003 verfasst er eine wöchentliche Kolumne für den „Standard“, im ORF diskutiert er mit Journalisten und Experten im „Europastudio“.

Die „Nahaufnahme“ zum Nachhören

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