Lendvai: „Ungarn 1956 - ein Aufstand ohne Plan“

Am 23. Oktober 1956 löste eine Demonstration von Studenten in Budapest eine Revolte gegen das kommunistische System aus. Der Publizist Paul Lendvai lebte damals in der ungarischen Hauptstadt: „Es war ein Aufstand ohne Plan.“

Als die Sowjetarmee den Aufstand am 4. November niederschlug, verließen 180.000 bis 200.000 Menschen ihre Heimat in Richtung Westen. Paul Lendvai, Jahrgang 1929, war damals Journalist in Budapest und erlebte hautnah die dramatischen Tage ab dem 23. Oktober 1956. Im Jänner 1957 konnte er Ungarn verlassen, seither lebt er in Österreich.

Von 1960 bis 1982 war Paul Lendvai Auslandskorrespondent für die Londoner Zeitung „Financial Times“ in Wien. Er gründete die Zeitschrift „Europäische Rundschau“ und wurde 1982 Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF und später Intendant von Radio Österreich International.

Er ist Leiter der ORF-Diskussionssendung „Europastudio“ und gilt als einer der besten Experten für Fragen zu Ost- und Südosteuropa. Er hat zahlreiche Bücher publiziert, unter anderem „Der Ungarn-Aufstand 1956“ (verlegt 2006 bei C. Bertelsmann), im Verlag Kremayr & Scheriau erschien vor kurzem das Buch „Orbans Ungarn“.

Paul Lendvai Ehemaliger Leiter Osteuropa-Redaktion ORF

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Paul Lendvai: „Die Entscheidungen über Osteuropa und Ungarn fielen in Moskau“

noe.ORF.at: Was waren am 23. Oktober 1956 die Anliegen und Ziele der Studenten?

Paul Lendvai: Ich war am 23. Oktober 1956 nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder in einer Zeitungsredaktion, nachdem ich davor als Journalist drei Jahre Berufsverbot hatte. Ich habe dort mit der Hand geschriebene Aufrufe gesehen, in denen freie Wahlen und Unabhängigkeit gefordert wurden.

noe.ORF.at: Hatte der Aufstand Chancen auf Erfolg? War es realistisch, dass die Forderungen erfüllt werden?

Lendvai: Nein, es gab in der Parteizentrale ein Erschrecken, dass die Menschen solche Forderungen stellten. Man sieht ja auch an dem Umstand, dass die Studentendemonstration am 23. Oktober zuerst verboten, dann wieder erlaubt wurde, dass die Führung der Partei total kopflos war.

noe.ORF.at: Hätte man sich nicht gerade in einer solchen Situation der „Kopflosigkeit“ mehr Hoffnungen auf das Durchsetzen machen können?

Lendvai: Nein. Es wurde nicht einmal erlaubt, dass die gemäßigten Forderungen im Rundfunk präsentiert werden konnten. Die Herrschenden waren nicht die Herren der Lage, sondern Agenten einer fremden Macht. Die Entscheidungen über Osteuropa und Ungarn fielen in Moskau.

noe.ORF.at: Im Oktober und November 1956 kamen in Ungarn während der Kämpfe knapp 3.000 Menschen ums Leben, Zehntausende wurden verwundet, etwa 180.000 flüchteten in den Westen. Hat man ahnen können, welche Folgen die Studentendemonstration am 23. Oktober 1956 auf das Land und die Menschen haben könnte?

Lendvai: Nein, das hat sich niemand vorstellen können. Niemand wusste, was passieren wird, es war ein mächtiger Aufstand – ohne Plan, ohne Konzepte. Ich wohnte damals in Budapest im Zentrum des Aufstandes. Als ich dann die sowjetischen Panzer auf der Straße sah, wusste ich, dass dies etwas sehr Schlimmes bedeutet. Aus einer Studentendemonstration wurde ein Volksaufstand gegen die Fremdherrschaft und für die Unabhängigkeit.

noe.ORF.at: Hatten Sie Angst?

Lendvai: Ich hatte keine Zeit dazu. Ich verbrachte die Tage im Keller des Wohnhauses, telefonierte, versuchte Kontakt mit den Aufständischen zu halten. Es waren vor allem junge Leute, nicht nur Studenten, sondern auch viele Arbeiter und junge Menschen, die noch in der Ausbildung standen. Und die Jungen waren auch die Opfer, denn der überwiegende Teil der Toten waren Jugendliche.

noe.ORF.at: Es war der erste bewaffnete Aufstand in einem osteuropäischen Land gegen die Sowjetherrschaft und gegen den Kommunismus. Man hat das Leben mit den Sowjets im Land gekannt – und man konnte es daher vermutlich nicht glauben, dass auf einmal Panzer auffahren, ähnlich wie es zwölf Jahre später in der Tschechoslowakei sein sollte?

Lendvai: Prag war im Vergleich zu Budapest ein Schauspiel, denn in Ungarn war es viel schlimmer, dort wurde auch geschossen, Menschen wurden umgebracht. Es war eine Explosion des aufgestauten Hasses gegen Diktatur und Fremdherrschaft. Aus einer Studentendemonstration wurde ein Volksaufstand. Aus dem Moskowiter Imre Nagy wurde ein ungarischer Patriot, und der neue Ministerpräsident wurde zum Symbol des Aufstandes.

Es war eine unerwartete Revolution, es war ein Beispiel für einen erfolgreichen Aufstand und ein scheinbar friedlicher Übergang zu einem Mehrparteiensystem. Aber die Entscheidungen fielen in Moskau, und der Westen hat versagt. Wer in Ungarn die Nachrichten der amerikanischen Rundfunksender gehört hatte, hoffte auf Hilfe aus dem Westen. Doch das war ein Irrtum. Der US-Vizepräsident Richard Nixon hat Wien besucht, mehr nicht.

noe.ORF.at: Warum hat der Westen die ungarischen Aufständischen nicht unterstützt? Weil er selbst mit der Suezkrise beschäftigt war?

Lendvai: Der Westen hat Ungarn 1956 deshalb nicht geholfen, weil 1945 in der Konferenz von Jalta beschlossen wurde, dass Ungarn zum sowjetischen Machtbereich gehört. Der spätere amerikanische Außenminister Henry Kissinger hat sarkastisch über diese Situation 1956 geschrieben: „Die US-Regierung tat so, als wäre sie Zuschauer bei einem dramatischen Schauspiel.“ Die Amerikaner haben überhaupt nichts getan. Und die Suezkrise als Grund? Das ist eine Legende. Die Würfel über Ungarn fielen in Moskau.

noe.ORF.at: Welche Folgen hatte der Aufstand?

Lendvai: Ungarn war das erste Land, in dem der Kommunismus, diese Diktatur, wiederaufgebaut werden musste. Janos Kadar spielte damals eine große Rolle. Er war 1956 das Werkzeug der Sowjets, aber als Ungar hat er verstanden, dass man Konzessionen machen und den Lebensstandard erhöhen muss. So verdreifachten sich innerhalb eines Jahrzehnts die Reallöhne. Die Ungarn haben „kleine Freiheiten“ bekommen, damit man ihnen die „großen Freiheiten“ wie ein Mehrparteiensystem oder den Abzug der Sowjets verweigern konnte. Aber die Ungarn lebten angenehmer, als Stichwort sei nur der „Gulaschkommunismus“ erwähnt oder „die lustigste Baracke des Ostblocks“, wie das Land bezeichnet wurde.

Paul Lendvai Ehemaliger Leiter Osteuropa-Redaktion ORF

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Paul Lendvai (l.) im Gespräch mit Reinhard Linke (r.): „Der Westen hat Ungarn 1956 nicht geholfen“

noe.ORF.at: War der niedergeschlagene Aufstand für Sie der Grund, dass Sie 1957 über Warschau nach Österreich gingen?

Lendvai: Natürlich. Ich war 27 Jahre alt und arbeitete bei einer Zeitung. Wir hofften, dass es wie in Polen und Jugoslawien auch in Ungarn zu Reformen kommt. Ich wollte aber nicht mehr mit der Lüge leben. Als ich damals in Warschau mit den österreichischen Journalisten Hugo Portisch und Adam Wandruszka gesprochen habe, wusste ich, dass ich nicht mehr zurückgehen konnte.

noe.ORF.at: In Österreich wird heute noch oft von den „offenen Grenzen und offenen Herzen“ erzählt, wenn man die politischen Ereignisse 1956 in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei und 1981/82 in Polen anspricht und nach den Reaktionen der österreichischen Bevölkerung fragt. Welchen Eindruck hatten Sie 1956/57 von der Hilfsbereitschaft der Österreicher den ungarischen Flüchtlingen gegenüber?

Lendvai: Mir wird oft vorgeworfen, dass ich Österreich idealisiere. Ich bin am 4. Februar 1957 nach Österreich gekommen, ohne Freunde, mit spärlichen Sprachkenntnissen. Ich habe ein Volk und ein Land erlebt, das diese fast 200.000 Ungarn mit offenen Armen aufgenommen hat. Warum? Der Politologe Norbert Leser hat einmal gesagt, weil die Österreicher dankbar waren, dass ihnen das Schicksal der Ungarn erspart geblieben war.

noe.ORF.at: Und heute?

Lendvai: Ich habe mich in diesem Land wohlgefühlt, und habe damals das Gefühl des „guten Österreichs“ gespürt. Ich bin seit 28. September 1959 österreichischer Staatsbürger und überzeugter Österreicher. Und ich bin auch davon überzeugt, dass es unter der Firnis auch heute ein „gutes Österreich“ gibt. Wir müssen aber gegen Rassismus, Engstirnigkeit und vor allem gegen Dummheit auftreten, damit dieser Kern wieder zum Vorschein kommt.

Natürlich waren die Ungarn und später die Tschechen und Slowaken aus einem ähnlichen Kulturkreis. Trotzdem: Flüchtling zu sein – unabhängig von der Farbe oder der Religion – ist etwas ganz Schlimmes. Deshalb kann man nicht einfach die Augen schließen und sagen, es interessiert mich nicht. Man muss etwas tun – und deshalb bewundere ich die viel kritisierte deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, die gegenüber Wladimir Putin ebenso wie gegen radikale Rechte einen klaren Kurs steuert.

Das Gespräch mit Paul Lendvai führte Reinhard Linke, noe.ORF.at.

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