„Radio strahlt soziale Wärme aus“

Vor 90 Jahren hat das heute selbstverständliche Medium Radio in Österreich seinen Betrieb aufgenommen - laut Stefan Eminger vom Landesarchiv „eine Revolution“. Er sieht das große Plus des Radios darin, „dass es soziale Wärme ausstrahlt.“

Stefan Eminger

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Stefan Eminger

Der Weinviertler Stefan Eminger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Niederösterreichischen Landesarchivs in St. Pölten. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der Ersten Republik und regionale Zeitgeschichte in Niederösterreich.

Er ist u.a. Mitherausgeber der Bücher „Niederösterreich. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart“ (Haymon-Verlag 2012) und „Niederösterreich im 20. Jahrhundert“ (drei Bände, Böhlau-Verlag 2008). Eminger ist zudem einer der drei Kuratoren der Ausstellung „Fern der Front – mitten im Krieg“, die seit 29. September 2014 in der Niederösterreichischen Landesbibliothek zu sehen ist. noe.ORF.at hat mit Stefan Eminger gesprochen.

noe.ORF.at: Am 1. Oktober 1924 hat die Radio-Verkehrs AG (RAVAG) die erste Radiosendung in Österreich ausgestrahlt. Welche Auswirkungen hatte das für die Gesellschaft, welche Veränderungen gab es in der politischen Landschaft?

Stefan Eminger (Niederösterreichisches Landesarchiv): Das Aufkommen des neuen Mediums Radio war geradezu eine Revolution. Die Menschen waren begeistert und haben sich sehr rasch entweder die Rundfunkempfangsgeräte besorgt oder die Detektorapparate selbst gebaut. Man hat zu Beginn darauf geachtet, dass die Monatsgebühr mit zwei Schilling nicht zu hoch war. Die Geräte waren um einiges teurer, umgerechnet der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters.

Man hat sehr schnell eine große Breitenwirkung erreicht. Am 1. Oktober 1924 hat es 11.000 Gebührenzahler gegeben. Als RAVAG-Vorläufer gab es eine Privatgesellschaft namens Hekaphon, und da konnte man auf diesen Interessentenkreis zurückgreifen. Ende des Jahres 1924 zählte man bereits 96.000 Gebührenzahler.

Ehepaar hört Radio, 1924

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noe.ORF.at: Gab es nur Euphorie über das neue Medium, oder konnte man auch skeptische Stimmen damals hören?

Eminger: Skepsis war auf jeden Fall auch vorhanden. Einerseits wurde von den Zeitungen massiv Stimmung gegen das neue Medium gemacht, weil es natürlich bei der Nachrichtenübermittlung weit schneller war als die Zeitungen. Auf der anderen Seite war es der Staat, das war aber ein Phänomen, das europaweit zu beobachten war. Der Staat wollte unbedingt die Kontrolle über das neue Medium haben. Es wurden im Radio keine politischen Meldungen gebracht, parteipolitische schon gar nicht. Im Mittelpunkt standen Bildung, Belehrung und erst der allerletzte Punkt war Unterhaltung.

noe.ORF.at: Hat das Medium Radio in den 1920er- und 1930er-Jahren zur Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen?

Eminger: Das Potenzial zur Demokratisierung hätte das Medium allemal gehabt, man hat aber etwas anderes daraus gemacht. Schon Ende der 1920er-Jahre hat die regierende christlich-soziale Partei mehr Einfluss auf das eigentlich proporzmäßig ausgerichtete Medium Radio erlangt, und mit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 durch die Regierung Dollfuß hat man das Medium komplett in den Dienst der ständestaatlichen Politik gestellt.

Es hat Widerstände seitens der Sozialdemokraten gegeben, die den ersten Gebührenstreik organisiert haben – und immerhin 13 Prozent der Gebührenzahler haben ihre Beiträge verweigert! Der Streik ist aber bald wieder beendet worden, weil die Arbeiter nicht auf das Medium Radio verzichten wollten.

noe.ORF.at: Wie war es ab 1938 unter den Nationalsozialisten?

Eminger: 1938 war ein wesentlich stärkerer Einschnitt, es kam eine Diktatur eines anderen, wesentlich schärferen Zuschnitts an die Macht: Das Radio war komplett Propagandainstrument des herrschenden Regimes.

Zwei Mädchen hören Radio, 1924

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noe.ORF.at: Welchen Stellenwert hat das Radio heute für die Bevölkerung?

Eminger: Für die Menschen war das Radio früher ein Medium, das man zu ganz bestimmten Zeiten intensiv gehört hat. Jetzt ist es eher ein Nebenher-Medium geworden, das heißt, das Radio läuft ständig nebenbei, und man hört Musik, Nachrichten und Wettervorhersagen. Das Radio ist heute ein täglicher Begleiter, das ist aber nicht anders als zum Beispiel in den 1960-er-Jahren.

noe.ORF.at: Die Menschen sind heute mobiler als vor 25 Jahren, es gibt heute Internet und Smartphones, haben sich dadurch auch die Anforderungen für die Medienanbieter geändert?

Eminger: Die Vorstellung, dass das Radio verschwindet, weil es nun das Internet als schnellstes Medium gibt, hat sich gar nicht bestätigt. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass die Bindung der Radiohörerinnen und Radiohörer durch das Internet sogar noch verstärkt wurde. Über das Internet können livestreams angeboten werden oder podcasts, mit denen man Sendungen konsumieren kann, unabhängig vom Sendezeitpunkt.

Sendungshinweis

„Niederösterreich heute“, 30.9.2014

noe.ORF.at: Das ist die rein technische Seite des Radios, gibt es auch noch andere Hörer-Sender-Beziehungen?

Eminger: Das große Plus des Radios ist, dass es so etwas wie soziale Wärme ausstrahlt. Es gibt so ein Gemeinschaftsgefühl in der Radio-Community, das auch wieder durch soziale Netzwerke gestärkt werden kann.

noe.ORF.at: Wo wird denn das Radio an seinem 100. Geburtstag stehen, am 1. Oktober 2024?

Eminger: Prognosen sind für Historiker immer schwierig. Was sich aber schon andeutet: Die Auswahl wird wesentlich größer werden, die Hörerinnen und Hörer werden aus einer Unzahl von Radioanbietern auswählen können, deren Produkte schon jetzt über Internetplattformen konsumiert werden können.

noe.ORF.at: Was werden dann weltweit alle nationalen und regionalen Anbieter machen, wie werden sie reagieren?

Eminger: ich glaube, dass es die Wahlfreiheit ist, die den Fortschritt ausmacht. Es ist ja schon ein langer säkularer Trend, dass ich mir aussuchen kann, was ich gerade möchte. Ich kann beides machen, ich kann die regionalen und die überregionalen Produkte hören, das ist sicher einer der großen Vorteile der neuen Medienrevolution, die wir durch das Internet haben.

Das Gespräch führte Reinhard Linke, noe.ORF.at