Hans Morgenstern: Der letzte Jude von St. Pölten

Im März 1938 hatte die jüdische Kultusgemeinde St. Pöltens 400 Mitglieder. Heute ist Hans Morgenstern der einzige jüdische Mitbürger der Landeshauptstadt. 1938 floh er mit seiner Familie nach Palästina, nach dem Krieg kehrte er zurück.

noe.ORF.at: Herr Morgenstern, wie hat Ihre Familie den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland 1938 erlebt?

Hans Morgenstern: Ich selbst weiß vom Einmarsch Gott sei Dank nichts, damals war ich noch zu klein, ich bin Jahrgang 1937. Mein Vater hingegen sah Adolf Hitler vom Fenster aus einmarschieren. Er fuhr damals durch die Kremsergasse, wo mein Vater die Kanzlei hatte. Mein Vater spähte durch die verschlossenen Rollos hindurch.

noe.ORF.at: Für Ihren Vater, einen angesehenen Rechtsanwalt in St. Pölten, veränderte sich damals vieles.

Morgenstern: Er bekam sofort Berufsverbot, das wurde ihm in einem Brief der Rechtsanwaltskammer mitgeteilt. Bald darauf schmissen sie uns aus unserer Wohnung in der Schubertstraße raus, da zog dann irgendein deutscher Offizier ein. Eine Zeit lang konnten wir dann noch in der Kanzlei meines Vaters im Haus seiner Mutter wohnen, das war unser Glück.

Hans Morgenstern

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Hans Morgenstern, Jahrgang 1937, war jahrzehntelang Hautarzt in St. Pölten

noe.ORF.at: Da fiel dann der Entschluss, nach Palästina auszuwandern?

Morgenstern: Genau. Eine Bekannte, die keine Jüdin war, beantragte für uns das Visum in der Schweiz. Für uns als Juden wäre das schwierig gewesen, wir hätten nicht mehr zurückkehren können, wenn wir mal draußen waren. Unsere Flucht vor dem NS-Regime begann dann in St. Pölten, wo wir in den Zug Richtung Basel stiegen. Beim dortigen Palästina-Amt holten wir irgendwelche Papiere, dann fuhren wir über Mailand nach Triest und von dort ging es mit dem Schiff nach Haifa.

noe.ORF.at: Bei der Ankunft in Palästina waren Sie ein Kleinkind.

Morgenstern: Ein Baby! Ich hab’ gerade begonnen, gehen zu lernen. Ich habe mich in Palästina sofort integriert, habe Hebräisch gelernt. In dem kleinen Dorf am Meer, in dem wir wohnten, gefiel es mir sehr gut, ich konnte baden gehen. Ich habe mich als Kind sehr wohlgefühlt.

noe.ORF.at: Wie ging es Ihrem Vater in Palästina?

Morgenstern: Für meinen Vater war Palästina kein heiliges Land, sondern ein Zufluchtsort. Er hat sich dort nicht wohlgefühlt, sonst wären wir ja auch nicht zurückgekommen. Er hatte einerseits Schwierigkeiten mit dem heißen Klima, denn er war schwer behindert, weil er als Kind Kinderlähmung hatte. Auch so fühlte er sich nicht wohl. Was die politische Lage betrifft, hatte er Bedenken. Er sah schon voraus, dass es Krieg geben würde. Außerdem musste mein Vater nach unserer Ankunft auch zuerst einmal einen Job suchen. Von all diesen Problemen bekam ich als Kind aber nichts mit.

noe.ORF.at: Vom Schicksal der Juden in Deutschland haben Sie damals aber trotz der Entfernung gewusst?

Morgenstern: Ja, wir haben das alles gewusst. Meine beiden Großmütter kamen in Auschwitz ums Leben, der Stiefvater meiner Mutter auch.

Hans Morgenstern Robert Friess

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Robert Friess beim noe.ORF.at-Gespräch mit Hans Morgenstern in dessen Innenstadtwohnung in der Landeshauptstadt

noe.ORF.at: 1945 war der Krieg vorbei. Wann kam der Entschluss Ihrer Familie, wieder nach St. Pölten zurückzukehren?

Morgenstern: Sobald der Krieg aus war, nahm mein Vater Kontakt mit der Stadtgemeinde auf. Aus St. Pölten teilte man ihm mit, er solle kommen. Es mangelte damals ohnehin an Rechtsanwälten, die hatten ja nun alle Berufsverbot, weil sie fast alle Nazis waren. Mein Vater wollte weg von Palästina, also kehrten wir 1947 zurück. Mir wurde jedoch erzählt, wir würden nach Jerusalem übersiedeln. Ich sollte nicht wissen, dass wir zurückkehren. Ich war noch ein Kind, meine Eltern hatten Angst, dass ich etwas austratsche. Das wurde damals nämlich nicht gerne gehört, dass man wieder zurückgeht, „zu den Nazis“ sozusagen.

noe.ORF.at: Wie gestaltete sich die Rückreise??

Morgenstern: Das war eine lange und komplizierte Reise. Zuerst fuhren wir mit dem Zug von Tel Aviv bis Port Said in Ägypten. Dort, in der Wüste am Suezkanal, lebten wir einen Monat in Zelten und warteten auf das britische Schiff, das uns nach Europa mitnehmen würde. Als es dann endlich da war, mussten wir über eine Strickleiter an Bord gehen. Ich erinnere mich, dass das für meinen Vater aufgrund seiner Behinderung sehr schwierig war. Zwei Männer mussten ihm helfen, einer vorne, einer hinten. Das war furchtbar für ihn.

Hans Morgenstern Robert Friess

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Hans Morgenstern und Robert Friess vor der ehemaligen Synagoge in St. Pölten

noe.ORF.at: Wie war es dann, wieder zurück in St. Pölten zu sein?

Morgenstern: Mein Vater nahm seine Tätigkeit als Rechtsanwalt wieder auf, als wir noch im Hotel Böck wohnten. Später stellte uns die Gemeinde eine Wohnung zur Verfügung. Damals kam ich in die dritte Klasse der Daniel-Gran-Volksschule. Eine Klasse hatten sie mich zurückgestuft, weil ich erst Deutsch lesen und schreiben lernen musste. Sprechen konnte ich bereits perfekt, auch nur Hochdeutsch. Der niederösterreichische Dialekt war für mich wie Chinesisch, obwohl ich Deutsch konnte. In Palästina hatten meine Eltern immer nur dann Dialekt gesprochen, wenn sie etwas sagen wollten, das nicht für meine Ohren bestimmt war.

noe.ORF.at: Worauf führen Sie es zurück, dass nach dem Zweiten Weltkrieg nur wenige jüdische Familien zurückkehrten?

Morgenstern: Viele andere Juden waren in Amerika, da war es anscheinend besser als in Palästina, sie konnten dort Fuß fassen, fast keiner von ihnen ging später nach Österreich zurück. In Palästina war dann Krieg, da verließen manche deswegen wieder das Land. Dass ich heute der einzige Jude in St. Pölten bin, stimmt mich natürlich traurig. Aber ich kann es nicht ändern!

Hans Morgenstern Robert Friess

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Hans Morgenstern: „Dass die Juden nicht sehr beliebt sind, das muss man wissen. Das kann man nicht ändern.“

noe.ORF.at: Sie waren damals zur Zeit des Nazi-Regimes ein Kind, Sie haben kaum etwas mitbekommen. Wie haben Sie dann später von den Judenverfolgungen erfahren, wie sind Sie damit umgegangen?

Morgenstern: Einerseits geschah es durch Erzählungen, andererseits habe ich dann schon Zeitung gelesen, in denen ständig von Prozessen gegen die Nazis berichtet wurde. Mit der Zeit bekam ich dann mit, was sich da abgespielt hatte. Es war nicht angenehm, denn bei allen, mit denen man sprach, wusste man nicht, ob er oder sie vielleicht ein Nazi war. Das war auch für mich als Kind nicht angenehm, als ich dann schon ein bisschen älter war, so um die 13 Jahre, da wusste ich das alles. Auch vom Schicksal meiner Großeltern wusste ich dann alles.

noe.ORF.at: Wie geht man damit um?

Morgenstern: Ich dachte sehr oft an meine Großeltern, obwohl ich sie gar nicht gekannt habe, weil ich mich ja nicht mehr erinnern konnte. Das war schon irgendwie ein Schock für mich. Ich begann, mich mit der ganzen Problematik zu beschäftigen. Ich stellte mir viele Fragen: Warum waren die Juden so verhasst? Warum haben die Leute den Nazis so zugejubelt? Das war für mich alles neu, ich musste mich damit auseinandersetzen.

noe.ORF.at: Auch heute hört man von Rechtsextremismus und Judenhass. Ich erinnere an die jüngste Entwicklung rund um die Liederbücher einer schlagenden Burschenschaft in Wiener Neustadt.

Morgenstern: Ich will nicht sagen, dass man sie hasst, aber dass die Juden nicht sehr beliebt sind, das muss man wissen. Das kann man nicht ändern. Aber ich persönlich war nicht unbeliebt, alle haben mich sehr geschätzt, auch meine Patienten. Ich bin sehr beliebt, aber die Juden sind es nicht. Doch wie soll man damit umgehen? Rechtsextremismus und Antisemitismus werden ohnehin vom Staat verfolgt. Ich kann nichts machen, für mich ist es zwar eine psychische Belastung, zu wissen, dass es junge Leute gibt, die noch so denken, aber machen kann ich dagegen nichts.

Das Gespräch mit Hans Morgenstern führte Robert Friess, noe.ORF.at.

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