Mehr Alte: „Kein Horrorszenario“

Jedes zweite Kind, das heute geboren wird, wird über 100 Jahre alt. Pensionsantrittsalter und Pflegekosten werden steigen - „kein Horrorszenario“, sagt der Sozialgerontologe Franz Kolland. Die Jungen müssen keine Angst haben.

noe.ORF.at: Rund 50 Prozent des Landesbudgets in Niederösterreich werden für Soziales aufgewendet. Betreutes Wohnen, Essen auf Rädern, mobile Pflege – der Verlust der Großfamilie kommt uns offenbar sehr teuer – was hat sich gesellschaftlich verändert, dass alte Menschen jetzt plötzlich vermehrt alleine sind?

Franz Kolland: Die Erwerbstätigkeit hat sich stark verändert. Wir arbeiten meist nicht mehr in ländlichen Haushalten, sondern in der Stadt. Die Jüngeren und auch die Frauen sind deutlich öfter im Berufsleben engagiert und das führt eben dazu, dass ältere Menschen Hilfe und Pflege und Betreuung brauchen, die nicht aus der Familie erbracht werden kann. Wesentlich ist auch, dass die Menschen heutzutage viel älter werden. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts haben wir gar nicht so lange gelebt, dass hier eine Betreuung oder Unterstützung überhaupt notwendig gewesen wäre. Die Menschen leben also länger und die Erwerbstätigkeit hat sich verändert und das verlangt nach neuen Betreuungssystemen. Wir können nicht sagen, dass die Solidarität zwischen den Alten und den Jungen zurückgegangen ist, denn die gibt es nach wie vor.

noe.ORF.at: Die Anzahl der über 90- Jährigen in Niederösterreich wird sich bis 2026 fast verdoppeln, werden wir das finanziell schaffen Betreuung und Pflege für all diese Menschen zu bezahlen?

Kolland: Ich glaube: Auf jeden Fall! Wir haben das in den letzten 100 Jahren geschafft - die Einführung der Pensionsversicherung war ein sehr erfolgreiches Projekt zur Weiterführung und Weiterentwicklung der Gesellschaft, und wir werden auch die Pflegesituation bewältigen können. Selbstverständlich werden mehr Menschen älter werden und es werden noch mehr Menschen Pflege brauchen. Aber auf der anderen Seite werden wir reicher, wir werden produktiver und wir schaffen mehr Sozialprodukte, die es uns erlauben für die pflegebedürftigen Menschen aufzukommen.

Aber es ist nicht nur eine Frage der Kosten. Es werden ja die älteren Menschen selber mobiler und in ihrer Eigentätigkeit bedeutsamer – die Abhängigkeit nimmt ab. Vor 30 oder 40 Jahren sind ältere Menschen davon ausgegangen, dass sie ein Recht, einen Anspruch darauf haben, dass ihnen geholfen wird. Da sehen wir jetzt einen Kulturwandel. Heute schon sagen 80 oder 90- Jährige: „Ich will so weit als möglich selbständig sein. Ich möchte selbst mein Leben führen.“ Diese kulturelle Veränderung müssen wir auch berücksichtigen.

Franz Kolland

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Franz Kolland

noe.ORF.at: Das wird auch in der technischen Entwicklung berücksichtig. Es gibt bereits Sensoren, die Alarm schlagen, wenn jemand aus dem Bett fällt oder High-tech Spiegel im Bad, die alte Menschen daran erinnern ihre Tabletten zu schlucken. Wird uns die Technik also dabei helfen, die Betreuungskosten künftig niedriger zu halten?

Kolland: Ganz sicher! Wir werden eine Zukunft haben, in der wir den Satz prägen: „Grandma meets ipad!“ Es gibt schon heute einige Beispiele, wo 100-jährige Frauen sich ein ipad besorgen. Das ist für viele Menschen heute in Österreich noch völlig undenkbar, dass es so etwas überhaupt gibt. Aber es wird sicher die Zukunft sein, dass wir den I Robot zuhause haben, den sich selbst bewegenden Staubsauger, der uns unterstützt. Wir werden uns nicht von diesen Technologien kontrollieren lassen – das ist ja immer so ein Problem, das man dabei hat – wir sollten das eher als Hilfe sehen, denn Alltag zu bewältigen. Da sehe ich eine gute Entwicklung und viele Erfindungen, die auf dem richtigen Weg sind.

noe.ORF.at: Wie gut arbeiten die Generationen momentan zusammen?

Kolland: Die letzte Fessl-Studie hat gezeigt, dass ältere Menschen eher keine Kredite nehmen sondern sehr stark sparen. Und für wen sparen sie? Sie sparen für die nachfolgenden Generationen. Paradox ist, dass auf der anderen Seite viele junge Menschen, die vergleichsweise wenig Zeit aber viel Geld haben, und den Älteren Geld geben könnten, den Älteren Zeit geben. Also, es findet ein Austausch zwischen den Generationen statt. Die Älteren geben Geld und die Jüngeren geben Zeit. Das ist zwar paradox (weil jeder genau das gibt, von dem er wenig zur Verfügung hat) aber trotzdem ein schönes Bild, dass die Generationen zusammenhalten – und das braucht es auch – neben den unterstützenden Technologien. Denn es reicht nicht aus, dass wir Sensoren oder Roboter zuhause haben – die erfüllen nicht unsere sozialen Bedürfnisse. Die Zukunft die ich sehe ist, dass unangenehme Tätigkeiten, wie bspw. das Reinigen der Wohnung, ausgelagert werden und sich die Familie auf ihre Kernaufgabe besinnt: nämlich zu sprechen mit dem anderen. Das brauchen ältere Menschen und das brauchen auch jüngere.

Wir wissen, dass Frauen deutlich älter werden als Männer – wird die Gesellschaft der Zukunft überwiegend weiblich sein?

Kolland:Die Demographen rechnen seit lange damit, dass sich diese Lücke zwischen den Geschlechtern schließen wird. Wir hatten gehofft, dass, wenn die Kriegsgenerationen gestorben sind, die Lebenserwartungsunterschiede zwischen Frauen und Männern geringer werden. Sie werden auch tendenziell geringer aber noch nicht wirklich sichtbar. Es wird also vier bis sechs Jahre Lebenserwartungsunterschied zwischen Männer und Frauen geben – d.h. die hochaltrige Gesellschaft ist eine weibliche Gesellschaft. Und die Pflege wird wiederum von Frauen übernommen – und das sind nicht hauptsächlich die Töchter sondern die Ehefrauen. Weil die Männer früher sterben und die Frauen älter werden übernehmen sie die Pflege – erst an zweiter Stelle stehen dann die Töchter. Es wäre günstig, wenn sich auch Männer mehr in der Pflege engagieren – aber es ist sicherlich so, dass das Alter weiblich ist und das wird auch in Zukunft so bleiben. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Männer in der Lebenserwartung zulegen ist nicht sehr groß, wobei gerade in Niederösterreich werden die Männer älter. Trotzdem wird auf vier 90 jährige Frauen nur ein Mann kommen.

Woran liegt das?

Kolland: Es gibt mehrere Theorien: Eine ist, dass Männer riskanter leben – vor allem in der fünften und sechsten Lebensdekade. Sie kommen bei Autounfällen häufiger ums Leben, sie sind in ihrem Raucherverhalten und ihrem Umgang mit anderen Menschen aggressiver und das führt dazu, dass sie früher ausscheiden. Frauen gehen auch eher zu Gesundheitsvorsorgeuntersuchungen. Männer gehen dort nicht hin, ein Mann funktioniert. Heute beschäftigen sich ältere Männer nicht mit sich selbst, das wird in der Zukunft vielleicht ein wenig anders ein.

Grundsätzlich sehen sie eine älter werdende Gesellschaft aber nicht als finanzielles Desaster sondern positiv?

Kolland: Es ist ein Gewinn. Der Zuwachs an älteren Menschen ist gesellschaftlich gesehen ein Fortschritt. Das ist keine Problemkonstellation. Die Alten bringen sehr viel, an Unterstützung, Verständnis für die Enkelkinder, in der freiwilligen Arbeit leisten sie sehr viel und sie werden auch produktiver. Ich halte Vorträge über die Kreativität im hohen Alter. Menschen können bis an ihren Lebensabend kreativ sein – es geht so weit, dass wir sogar einen sogen. „Schwanengesang“ haben. Das bedeutet, dass Menschen im allerhöchsten Alter noch einmal zu einer besonderen Kreativitätsform auflaufen. Denken sie an Leoš Janáček oder Pablo Picasso die im Alter ihre wirklich großen Werke geschaffen haben.

Das Gespräch führte Ursula Hofmeister, noe.ORF.at.