Ehemalige Zöglinge brechen ihr Schweigen

Jahrzehntelang ließ man über die dunkle Vergangenheit der Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram (Bezirk Tulln) Gras wachsen. Für ein Studenten-Projekt haben Betroffene nun erstmals über die Geschehnisse gesprochen.

Der Blick aus dem Fenster fällt durch weiße Gitterstäbe. An den Innenseiten der Holztüren findet man Kritzeleien, außen hängt ein dunkelrotes Schild, auf dem „Raum 3“ steht. Manches erinnert heute noch an die einstige Funktion des Gebäudes hinter dem Kirchberger Marktplatz. Während draußen vor der Tür die sommerliche Hitze brütet, ist es hier um einige Grad kühler. Und dennoch sind es nicht die Temperaturen, die einen erschaudern lassen, sondern die Erzählungen der ehemaligen Zöglinge Alfred Obermair und Wilhelm Jäger. „Ein Wahnsinn, was wir damals durchstehen haben müssen“, sagt Jäger.

Kirchberg Erziehungsanstalt

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Nach Jahrzehnten kommen Alfred Obermair (2.v.l.) und Wilhelm Jäger (M.) mit Studierenden der Fachhochschule St. Pölten in die frühere Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram

Die Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram wurde in den 1930er-Jahren als Außenstelle der Bundeserziehungsanstalt Wien-Kaiserebersdorf errichtet. Für ein Heimkind war Kirchberg eine Art Höchststrafe. Wer hierher kam, galt als "besonders schwer erziehbar“. Es gab zwölf Zellen für zwölf Buben, die Zöglinge waren zwischen 14 und 20 Jahre alt.

Projekt gibt Betroffenen nun eine Stimme

Elf Studierende des Studiengangs Soziale Arbeit der Fachhochschule St. Pölten widmeten sich nun in ihrem Bachelorprojekt dem Thema. Sie sprachen mit ehemaligen Zöglingen und Erziehern. „Damit kann man nun ein Stück der Geschichte, die bis jetzt wirklich ausgeblendet wurde, herzeigen“, sagt Siegfried Tatschl von der FH St. Pölten, der das Forschungsprojekt leitete. Wesentlich sei vor allem, dass „jenen Menschen, denen damals solches Unrecht angetan worden ist, nun eine Stimme gegeben werden konnte“.

Wilhelm Jäger und Alfred Obermair gehen heute Seite an Seite durch den Gang, von dem links und rechts die Zellen wegführen. Länger als ein halbes Jahrhundert sind sie nicht mehr an diesem Ort gewesen. Trotzdem sind die Erinnerungen allgegenwärtig: „In der Früh und am Abend musste man den sogenannten Scheißkübel ausleeren, im Laufschritt. Wer am Gang daneben schüttete, bekam ein paar Watschen“, erzählt Jäger.

Kirchberg Zöglinge Erziehungsanstalt

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Nahezu 23 Stunden am Tag verbrachten die Zöglinge in ihren Zellen, nur eine Stunde war für Sport im Anstaltshof vorgesehen

„Wir waren ja hilflos“, meint Obermair, „hätte man einmal hingehauen, dann hätte man eben das Zehnfache zurückbekommen“. Auch Flucht sei hier unmöglich gewesen, wie Jäger betont: „Mit unseren geschorenen Glatzen, den kurzen Hosen und ohne Schuhe waren wir für die Außenwelt gebrandmarkt. Jeder hätte gewusst, der Bursche ist von hier. Du wärst von hier nicht weggekommen".

Was im Zimmer der Quäler geschah

Täglich war eine Stunde Sport vorgeschrieben, also ging man in den Hof, um Fußball zu spielen. Während die Erzieher mit festen Schuhen spielten, waren die Zöglinge barfuß und schlugen sich am rauen Betonboden die Füße blutig. Im unteren Stock gab es ein Zimmer mit verschließbaren Fensterläden, wo die Buben bis zu sieben Tage in völliger Finsternis eingesperrt wurden.

Alfred Obermair erzählt zudem von „Belustigungen im Zimmer der Quäler“, wie er es nennt: Beim sogenannten Stockschlagen verband man den Buben die Augen, „dann schlug dir jemand auf den Hintern und du musstest erraten, wer es war. Manche Erzieher schlugen mit Gurten. Damit wollten sie uns kleinkriegen“, schildert Obermair. Auf die Frage, ob Stockschlagen ebenfalls als Strafe eingesetzt wurde, antwortet er: „Nein, denen war fad."

Heim seit 1974 geschlossen

In dem Hof, in dem die Zöglinge damals Fußball spielten, wuchert heute meterhohes Unkraut. Man ließ buchstäblich Gras über die Sache wachsen. Die Erziehungsanstalt Kirchberg am Wagram wurde 1974 geschlossen. Einige Zeit nutzte die Republik Österreich das Gebäude als Aktenarchiv, heute steht es leer. Im Jahr 2017 gab es eine Ausstellung, doch nun ist die weitere Nutzung offen. Alfred Obermaier meint, er habe ohnehin mit den Geschehnissen von damals abgeschlossen: „Ich bin heute niemandem mehr nachtragend, die meisten leben wahrscheinlich eh nicht mehr. Die sollen die Würmer fressen.“

Miriam Steiner, noe.ORF.at