Prag ’68: Mit Panzern gegen den Bruderstaat

Am 21. August 1968 marschierte eine halbe Million Soldaten des Warschauer Pakts im Bruderstaat Tschechoslowakei ein, beendete damit den „Prager Frühling“ und die Hoffnungen auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.

Die Ereignisse des Jahres 1968 in West- und Osteuropa haben große Auswirkungen für die Entwicklung der liberalen Demokratie bis in die Gegenwart. Das trifft sowohl für die Studentenunruhen als auch für den „Prager Frühling“ zu, der im August vor 50 Jahren gewaltsam niedergeschlagen wurde. Die Grundidee seiner Betreiber war es, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu schaffen.

21 August 1968 Niederschlagung Prager Frühling

Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften

Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich die Tschechoslowakische Republik (CSR/bis 1948) bzw. die Tschechoslowakische Sozialistische Republik (CSSR/1948 bis 1989) unter dem Einfluss der Sowjetunion. 1948 begann die Diktatur der Kommunistischen Partei (KSC). Es waren keine anderen Parteien als die KSC erlaubt, Proteste gegen die Partei oder das sozialistische System wurden unterdrückt und bestraft. Es gab keine Presse- und Meinungsfreiheit und auch keine freien Wahlen, die Wirtschaft wurde verstaatlicht.

1968: Das Jahr der Liberalisierung in der CSSR

Nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin im Jahre 1953 wurden zu Beginn der 1960er Jahre vorsichtige Wirtschaftsreformen durchgeführt. Auch die strenge Medienzensur wurde etwas gelockert, beispielsweise wurden Diskussionssendungen im Fernsehen in Kooperation mit dem ORF übertragen („Stadtgespräche“, 1964). Zudem wagten es Journalisten und Künstler immer öfter, die Kommunistische Partei und ihre Alleinherrschaft zu kritisieren.

Unter diesen Vorzeichen wurde Alexander Dubcek im Jänner des Jahres 1968 zum Vorsitzenden der Kommunistischen Partei bestimmt. Mit dem Aufstieg Dubceks begann der sogenannte „Prager Frühling“. Es war der Versuch, den Sozialismus zu reformieren und zu demokratisieren. Medien durften wieder frei berichten, Meinungsfreiheit war wieder erlaubt, ebenso Reisen aus der CSSR in westliche Länder. Das Machtmonopol der Kommunistischen Partei blieb jedoch erhalten, es war weiterhin keine andere politische Partei zugelassen.

Proteste gegen den Einmarsch in Prag

EPA/CTK/Libor Hajsky

Ein Höhepunkt des Reformprogramms des „Prager Frühlings“ war das „Manifest der 2000 Worte“ im Juni 1968. Tschechische Schriftsteller stellten darin den Sozialismus als System und die führende Rolle der Kommunistischen Partei infrage. Die KSC um Dubcek distanzierte sich vom Manifest, ging aber nicht gegen dessen Verfasser vor. Die Partei weigerte sich auch, dem wachsenden Druck der anderen sozialistischen Staaten nachzugeben. So beschlossen fünf Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts - Sowjetunion, Polen, Ungarn, die DDR und Bulgarien - letztlich, den Reformkurs in der Tschechoslowakei militärisch zu beenden.

Der „Reformeifer“ wurde gewaltsam beendet

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 begann der Einmarsch sowjetischer, polnischer, bulgarischer und ungarischer Truppen in die Tschechoslowakei. Die tschechoslowakische Armee leistete keinen Widerstand, als wichtige Einrichtungen, Radiostationen und Zeitungsredaktionen besetzt wurden. Menschen kletterten auf Panzer, übermalten Straßenschilder, um den Soldaten die Orientierung zu erschweren, und errichteten Barrikaden. Unzählige Radiosender halfen dabei, den Widerstand zu organisieren. Bei Auseinandersetzungen zwischen Soldaten und der Bevölkerung kamen dennoch mehr als 100 Menschen ums Leben. Hunderte wurden schwerer verletzt.

Unterdessen suchten unzählige Tschechen in der Österreichischen Botschaft in Prag Schutz. Zwar gab Außenminister Kurt Waldheim (ÖVP) die Anweisung, keine Visa auszustellen - doch der damalige österreichische Botschafter in Prag, Rudolf Kirchschläger, ignorierte dies. Der spätere Bundespräsident entschied, seinem Gewissen zu folgen, und stellte Fluchtwilligen etwa 50.000 Visa aus.

Botschaftergattin Herma Kirchschläger sorgte zudem für die Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Sie schaffte unter anderem zwei große Kühltruhen an, um Nahrungsmittel und Essensvorräte für Flüchtlinge bereitzuhalten, und stellte einen ausreichenden Vorrat an Trinkwasser bereit. Insgesamt flüchteten 1968 96.000 Menschen nach Österreich, weitere 66.000 Urlauber kehrten nicht aus Österreich in die Tschechoslowakei zurück.

Unwiderruflich beendet war der „Prager Frühling“, nachdem Dubcek Ende August aus Moskau zurückgekehrt war. Am 26. August hatte die sowjetische Führung um Parteichef Leonid Breschnew die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei zur Unterzeichnung des Moskauer Protokolls gezwungen. Damit sollten Reformen wie Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit wieder rückgängig gemacht werden.

Der Fall des Kommunismus dauerte noch 21 Jahre

Im Zuge der vom neuen KSC-Generalsekretär Gustav Husak initiierten Säuberungen innerhalb der Partei wurde als erster Schritt knapp einer halben Million Parteimitgliedern das Parteibuch entzogen. Dubcek wurde als Generalsekretär der Kommunistischen Partei abgesetzt, die neu bestimmte Führung der KSC machte die Reformen Schritt für Schritt wieder rückgängig.

Die Proteste gegen die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit flammten mit der „Charta 77“ wieder auf. Die Erklärung wurde 1977 veröffentlicht und zeigte auf, wie Grund- und Freiheitsrechte in der Tschechoslowakei unterdrückt wurden. Die Bewegung, die hinter der Charta 77 stand, spielte eine wichtige Rolle beim Wandel der Tschechoslowakei von einer sozialistischen Herrschaftsform hin zu einer Demokratie, der mit der „Samtenen Revolution“ im Jahre 1989 seinen Abschluss fand.

Weitra Prager Frühling 50 Jahre Diskussion

ORF

Die Auswirkungen auf Niederösterreich

Mit dem Einmarsch wurde das Experiment der Reformer in Prag beendet, Moskau sorgte für Ruhe im Bruderstaat. Unvorstellbares war zur Realität geworden, noch wenige Monate zuvor hatten die Tschechoslowaken auf ein Leben „wie im Westen“ gehofft.

Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Institutes für Kriegsfolgen-Forschung in Graz, sagte bei einem internationalen Symposium Anfang August in St. Pölten, das ihr Institut gemeinsam mit dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde veranstaltete: „Die Möglichkeit, Rockmusik zu hören, lange Haare zu tragen, die Antibabypille - das alles hat zu diesem 68er Jahr dazugehört. Das heißt, politisch, kulturell und gesellschaftlich war alles in Bewegung, es gab eine optimistische Aufbruchstimmung.“

Was 1968 mit der Forderung nach Freiheit, Demokratie und bürgerlichen Rechten begann, wurde erst mehr als 20 Jahre später mit dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ Wirklichkeit. Stefan Karner von der Österreichisch-Russischen Historikerkommission: „Was mich immer ganz besonders fasziniert hat: Dass das Wort, die Macht des bloßen Wortes, in der Lage ist, ein System zum Einsturz zu bringen, das auf Bajonetten und Panzern aufgebaut ist.“

Was hatte man vor 50 Jahren in Österreich und in Niederösterreich zu befürchten? Die Bundesregierung ließ das Bundesheer aufmarschieren, aber 30 Kilometer vor der Staatsgrenze hieß es Halt für die österreichischen Soldaten, weil man die Sowjets nicht provozieren wollte. Peter Ruggenthaler vom Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung: „Es gab Gerüchte, dass die Sowjets nach Jugoslawien durchmarschieren wollen. Diese Gerüchte wurden forciert, die Bevölkerung hatte zu Recht Angst, 13 Jahre nach dem Abzug der Alliierten. Das ist zu verstehen, auch wenn man heute sagen kann, dass die Ängste unbegründet waren.“

Welche Gedanken hatten damals junge Menschen im Waldviertel? Reinhard Preißl aus Seyfrieds bei Heidenreichstein (Bezirk Gmünd) war 14 Jahre alt: „Ich würde es nicht als Angst bezeichnen, aber eine gewisse Sorge hat man schon gespürt, weil die Menschen befürchtet haben, dass es auch in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzung kommen könnte.“

Ein Jahr älter, nämlich 15 Jahre, war Wilhelm Matzinger aus Waidhofen an der Thaya: „Mich haben vor allem die militärischen Aspekte interessiert. Ich bin mit einer Zeitung im Stadtpark gesessen, habe mir die Fotos der Panzer angeschaut und mit meinen Freunden darüber geredet.“ Werner Neuwirth aus Thaya (Bezirk Waidhofen an der Thaya) war 20 Jahre alt und studierte Geschichte: „Unsere Fußballmannschaft hat in diesem Jahr den Aufstieg in die Landesliga geschafft und so haben wir uns mehr für das Sportliche interessiert. Angst haben wir nicht empfunden.“

Wer konnte, verließ die Tschechoslowakei, der „Prager Frühling“ hatte ein gewaltsames Ende gefunden. In der Tschechoslowakei mussten die Menschen noch weitere 21 Jahre warten, bis 1989 der „Eiserne Vorhang“ und der Ostblock Geschichte waren.

Reinhard Linke, noe.ORF.at

Die „Nahaufnahme“ über den „Prager Frühling“ zum Nachhören:

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