Teil des Eisernen Vorhangs bei Hardegg
„100 Jahre NÖ“

Als die grüne Grenze zur Todeszone wurde

Anfang der 1950er-Jahre riegelt die Tschechoslowakei die Grenze zu Österreich immer weiter ab. Dörfer werden umgesiedelt, im kilometerbreiten Grenzstreifen herrscht nun Lebensgefahr. Für die historisch verwachsene Region ist das ein Schock.

„Die Grenze hatte schon etwas Furchterregendes“, sagt Oliver Rathkolb heute. „Gleichzeitig hat sie einen magisch angezogen.“ In den 1950ern geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend im nördlichen Waldviertel, direkt am Eisernen Vorhang. Eine prägende Institution für mehrere Generationen, auch für den Historiker. „Es ist wohl kein Zufall, dass meine Dissertation mit dem Kalten Krieg zusammenhängt“, sagt Rathkolb, der mittlerweile zu den führenden Köpfen der österreichischen Geschichtswissenschaften zählt.

Wer nach dem Zweiten Weltkrieg nahe der tschechoslowakischen Grenze aufwuchs, konnte die Weltpolitik vor der Haustüre beobachten. Und an großen weltpolitischen Ereignissen gab es im gesamten 20. Jahrhundert keinen Mangel, auch in der Nachkriegszeit nicht.

Erste Grenze nach Erstem Weltkrieg

Bereits damals verband eine wechselhafte Geschichte das nordöstliche Österreich mit dem Gebiet des heutigen Tschechien und der heutigen Slowakei. Geprägt durch die Zeit der Habsburgermonarchie, gab es zahlreiche familiäre und wirtschaftliche Beziehungen. Diese bestanden auch nach dem Ersten Weltkrieg fort, obwohl nun eine Staatsgrenze Österreich von der neuen Tschechoslowakei trennte.

Die Grenze war zu dieser Zeit noch vergleichsweise einfach zu queren. Bestes Beispiel ist Gmünd, das damals geteilt wurde – der nördliche Teil hieß ab 1920 Česke Velenicé. Zu einem wirtschaftlichen Zusammenbruch führten diese Maßnahmen aber nicht, noch immer war ein länderübergreifender Austausch möglich.

Universum History: Niederösterreich – Leben am Eisernen Vorhang

Eine Dokumentation aus dem Jahr 2016 zeichnet die bewegte Gmünder Geschichte des 20. Jahrhunderts nach

In der NS-Zeit wurde dieser Austausch weiter erleichtert. Nach dem Ende der tschechoslowakischen Demokratie und der Errichtung des sogenannten Protektorats Böhmen und Mähren Ende der 1930er-Jahre „war die Grenze überhaupt offen“, sagt Historiker Rathkolb von der Universität Wien. „Es wurden ja auch Teile des Gebiets einfach dem Gau Niederdonau zugeschlagen – und auch nach 1945 war es noch de facto eine grüne Grenze.“

Sozialistische Wende in der Tschechoslowakei

Der Wandel begann 1948, wenn auch vorerst nur langsam. Die Kommunisten ergriffen in Prag die Macht, damit schloss sich die Tschechoslowakei dem entstehenden Ostblock an. Zu dieser Zeit führte das neue Regime auch erste Strafen für den illegalen Grenzübertritt ein, „aber nach wie vor war die Grenze relativ durchlässig“, sagt Rathkolb.

1949 und 1950 wurden die Gesetze mit immer schärferen Mitteln durchgesetzt. Militärische Grenzwachen wurden installiert, ganze Kompanien an die Grenze verlegt. „Gleichzeitig begann man mit der Errichtung von Zäunen“, erklärt Rathkolb. Dörfer und Kleinstädte wurden ausgesiedelt, das Betreten des kilometerbreiten Grenzstreifens war Unbefugten streng verboten. „Dann kam es auch zur Verlegung von Minen – man merkt also, ab 1950 wurde die Grenze in vielen Bereichen zu einer Todeszone“, so der Historiker.

Teil des Eisernen Vorhangs bei Hardegg
Zusätzlich zu den meterhohen Stacheldrahtzäunen – dem Symbol des Eisernen Vorhangs schlechthin – kamen unter anderem auch Minen zum Einsatz

Das Regime in Prag „war mit den zunehmenden Fällen illegaler Grenzdurchbrüche und der großen Anzahl von Personen, welche erfolgreich über die bewachte Grenze flüchteten, unzufrieden“, schreibt auch der slowakische Historiker Peter Mikle in seinem Beitrag für ein Projekt mehrerer deutscher Forschungseinrichtungen. An der Grenze zur heutigen Slowakei wurden die ersten Grenzbefestigungen rund um Bratislava errichtet, nahe den Gemeinden Petržalka, Jarovce, Rusovce und Čunovo. „Es handelte sich um Holzräderzäune mit Stacheldraht in Höhe von zwei bis drei Metern.“

Schießbefehl für die Grenzwache

Formal festgeschrieben wurde der weitere Ausbau der Fluchtabwehranlagen 1951, als das kommunistische Regime in Prag das Gesetz Nr. 69/1951 „Zum Schutz der Staatsgrenze“ verabschiedete. Es verpflichtete jeden Bürger und jede Bürgerin dazu, die tschechoslowakische Grenze zu schützen, und verbot ihnen eine Annäherung ohne behördliche Erlaubnis. Wenig später erlaubte die Regierung in Prag auch ausdrücklich den Einsatz von Schusswaffen, um illegale Grenzübertritte zu verhindern. Es herrschte endgültig Lebensgefahr, ein Fluchtversuch erforderte maximale Risikobereitschaft.

„Mit der Errichtung der Grenzzäune brachen das private und das ökonomische Leben in der Region zusammen“, sagt Rathkolb. Er spricht gleichzeitig von einer „Statistik des Grauens“, wenn es um die Opfer des Eisernen Vorhangs geht. Knapp 50.000 Menschen wurden ab den 1950ern in Grenznähe festgenommen, knapp 150 beim Versuch der Überquerung erschossen, weitere knapp Hundert starben durch Stromschläge. Die meisten Todesopfer gab es allerdings nicht unter den Flüchtigen, sondern unter den Grenzschützern, etwa bei Unfällen mit Minen und als Folge von Schussverletzungen.

Ein Grenzschützer verlässt seinen Posten

Bereits kurz nach der Befestigung Anfang der 50er-Jahre kam es im äußersten Norden und Osten von Österreich zu aufsehenerregenden Fluchtversuchen und zu tödlichen Zwischenfällen. Zwei dieser Geschichten handeln von Alois Jeřábek und Emil Švec. Jeřábek, 1927 in Brno geboren, war Soldat der tschechoslowakischen Grenzwache. Nach mehreren Monaten im Einsatz entschied er sich, zu desertieren. Im Jänner 1953 wagte er die Flucht über die Grenze nach Österreich.

Alois Jerabek
Archiv des Sicherheitsdienstes
Alois Jeřábek wurde nach seinem Fluchtversuch verhaftet und hingerichtet

„Er nahm dem Schützen, der mit ihm auf Wache war, das Patronenmagazin weg, damit dieser nicht auf ihn schießen konnte“, sagte der tschechische Militärhistoriker Ivo Pejčoch einmal gegenüber Radio Prague International, dem Auslandssender des öffentlich-rechtlichen tschechischen Rundfunks.

Als er das österreichische Staatsgebiet erreichte, habe er sich in Sicherheit geglaubt. „Aber die nächste Patrouille verfolgte ihn und bei einer Schießerei ziemlich tief im österreichischen Hinterland wurde er in die Lunge getroffen“, sagte Pejčoch. Die früheren Kameraden brachten den flüchtigen Deserteur zurück in die Tschechoslowakei "und im Dezember 1953 wurde er nach einem politischen Prozess hingerichtet“.

Flucht mit dem Flugzeug zur Schädlingsbekämpfung

Wenige Jahre später, 1959, flüchtete Emil Švec in einer spektakulären Aktion nach Österreich, in diesem Fall vom Gebiet der heutigen Slowakei aus. Als Widerstandskämpfer gegen das kommunistische Regime war er bereits zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Nach seiner Entlassung entschied er sich zur Flucht – der „abenteuerlichsten“, wie die Austria Presse Agentur am 3. August 1959 schrieb: „Er hat auf dem Flugplatz in Senica eine Maschine vom Typ ‚Fieseler Storch‘, die zur Schädlingsbekämpfung eingesetzt war, gestohlen und war damit über dem Grenzgebiet von Hohenau nach Österreich geflogen. Er landete heute kurz nach 04.00 Uhr in der Nähe von Wilfersdorf im Bezirk Mistelbach und bat die dortigen Gendarmeriebeamten um politisches Asyl.“

Fieseler Storch
Bei seiner Flucht verwendete Švec eine umgerüstete Militärmaschine des ursprünglich deutschen Flugzeugtyps „Fieseler Storch“

Später erzählte Švec, die Gendarmeriebeamten hätten ihm die Geschichte zuerst gar nicht geglaubt. Auf seine Erklärung, er sei gerade mit einem Flugzeug aus der Tschechoslowakei geflohen und auf einem Acker gelandet, hätten sie ihn nur verblüfft angestarrt und „Wooos?“ gesagt, schilderte er kurz vor seinem Tod gegenüber der „Presse“. Angeblich seien damals bereits tschechoslowakische Jagdflugzeuge aufgestiegen, um seine gestohlene Maschine abzuschießen.

Sendungshinweis

„Radio NÖ am Nachmittag“, 18.4.2022

Drei Jahre nach seiner Flucht, als er bereits in Wien lebte, wurde Švec vom tschechoslowakischen Geheimdienst mit einem Vorwand an die Grenze gelockt. Ein Spezialkommando entführte den politischen Flüchtling, in seiner früheren Heimat landete er erneut im Gefängnis. Jahrzehntelang.

Ceske Velenice in den 1980er Jahren
ORF
Der hohe Grenzzaun war in Gmünd Teil des Stadtpanoramas und in den Köpfen der Bevölkerung ständiger Begleiter

Neue Normalität für Bevölkerung „am Ende der Welt“

Die zunehmende Todesgefahr an der Grenze war auch der österreichischen Bevölkerung bewusst, nicht zuletzt jener in Gmünd. Immer wieder starben Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Siedlungen, insbesondere nach dem Prager Frühling 1968. Die Gmünder sahen das Flutlicht der Grenzanlagen, vereinzelt waren auch Schüsse zu hören.

Trotz stetiger Abwanderung blieben in den Jahren nach der Abschottung große Teile der Bevölkerung in der kleinen Stadt am Ende der westlichen Welt. Sie lernten mit der neuen Situation zu leben – die Grenze wurde langsam ein Teil von ihnen. Zugleich verblassten die jahrzehntelangen Erinnerungen an die andere Seite der Grenze immer mehr. Letztlich verschwand Česke Velenicé vollends hinter dem scheinbar endlosen Stacheldrahtzaun.