Marsch der Freiheit im Dezember 1989
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Chronik

„Marsch der Freiheit“: Zeitzeuge erinnert sich

Es ist geradezu irritierend, dass heute kaum bekannt ist, was sich am 10. Dezember 1989 im Grenzgebiet zwischen Bratislava und Hainburg (Bezirk Bruck an der Leitha) abgespielt hat. Tausende Menschen aus der Tschechoslowakei spazierten über die offene Grenze. Ein junger Hainburger war unter jenen, die ihnen damals den Weg ebneten.

Thomas Häringer war 27 Jahre alt, der Sohn eines Kommunisten, und „immer wieder aufmüpfig“, wie er sich heute selbst beschreibt. Wohl deshalb wurden die prominenten tschechoslowakischen Dissidenten Milan Knazko und Jan Budaj auf ihn aufmerksam. Sie waren Vertreter der „Bewegung gegen Gewalt“ in Bratislava, die einen „Marsch der Freiheit“ plante. Dieser sollte über die Grenze nach Österreich führen. Knazko und Budaj trafen sich mit Thomas Häringer im Hainburger „Gasthof zum Anker“, um ihm ihre Pläne zu offenbaren.

Bundesheer und Spitäler in Alarmbereitschaft

Häringer erzählte Bürgermeister Johann Ritter (ÖVP) davon. Es kam zu einem zweiten Treffen, schildert Häringer: „Der Bürgermeister hatte den Bezirkshauptmann informiert und bei diesem Treffen waren dann schon Vertreter des Außen-, des Innen- und des Verteidigungsministeriums dabei, welche die Abläufe abklärten.“

Thomas Häringer
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Thomas Häringer erzählt noe.ORF.at, wie er den 10. Dezember 1989 erlebte

Trotzdem habe Unsicherheit in Österreich bestanden, wie sich die Situation entwickeln könnte. Man wusste nicht, wieviele Menschen kommen und ob das Militär auf tschechoslowakischer Seite nicht doch eingreifen würde. So wurde am nahen Spitzerberg eine Übung des Bundesheeres gemeinsam mit dem Roten Kreuz angesetzt, bei dem offiziell ein Flugzeugabsturz simuliert werden sollte. Auch die Spitäler wurden kurzzeitig personell aufgestockt. Man wollte für alle Fälle gerüstet sein.

Einwohner vom Ausmaß der Beteiligung „überrollt“

Währenddessen wurde die Bevölkerung der betroffenen Gemeinden Wolfsthal und Hainburg (beide Bezirk Bruck an der Leitha) kaum informiert, nur wenige deutschsprachige Ausgaben der Plakate waren verteilt worden, mit denen in Bratislava zum Marsch aufgerufen wurde. So war die Überraschung groß, als am 10. Dezember 1989 die Menschenmassen aus der slowakischen Hauptstadt nach Österreich aufbrachen.

Marsch der Freiheit im Dezember 1989
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Der „Marsch der Freiheit“ führte viele Bewohnerinnen und Bewohner Bratislavas zum ersten Mal in das Nachbarland

Ungehindert von Kontrollen überquerten sie die wenige Tage zuvor noch gesicherte Grenze, gezählt wurden sie nicht. Schätzungen liegen heute weit auseinander, sie reichen von 50.000 bis 200.000 Menschen, welche die gut 15 Kilometer bis zum Donaustrand bei der Thebener Überfuhr zurücklegten, um dort ihre Freiheit zu feiern.

Es war „eine unglaubliche Stimmung“

Thomas Häringer erzählt von der Überraschung und Unzulänglichkeit der Niederösterreicher: „Wir hatten eine Palette Mineralwasser und drei, vier Säcke Klopapier vorbereitet. Mitglieder unserer Schauspieltruppe der Burgspiele Hainburg verteilten als Willkommensgruß Brot und Salz. Wir hatten vom Bäcker aber nur acht, neun Laibe Brot bekommen, das alles hat uns völlig überrollt.“

Die Stimmung sei aber unglaublich gewesen, beschreibt Thomas Häringer: „Sie waren euphorisch, glücklich, haben sich wahnsinnig gefreut, dass dieses Ereignis stattfinden konnte. Am Donauufer wurde gesungen, ein Teil der Menschen begab sich dann nach Hainburg, um zu schauen, was es da so gibt. Letztendlich gingen sie wieder nach Hause oder wurden von Bussen abgeholt. Irgendwie war das ein sehr, sehr entspannter Sonntag im Winter 1989.“