Detailreich verweben dabei Christian Rapp, wissenschaftlicher Leiter des Hauses der Geschichte im Museum Niederösterreich, und der Historiker Hannes Leidinger die Familienhistorie des Sohns eines Zollbeamten mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Denkweisen bzw. politischen Umständen der damaligen Zeit.
Gleich zu Beginn machen sich die Autoren Gedanken darüber, inwieweit eine biografische Betrachtung Hitlers überhaupt sinnvoll und gangbar ist: „Die Gefahr eines biografischen Blicks auf die Person Hitlers besteht immer darin, die Gesellschaft oder zumindest große Teile der Gesellschaft zu exkulpieren und die Verantwortung auf einen Einzelnen zu konzentrieren.“
Bis 1914 formten sich Hitlers Charakter und Weltbild
Es gebe aber durchaus einen Grund, in diesem Fall die Person „Hitler“ in den Vordergrund zu stellen: „In der Zeit bis 1914 formen sich sein Charakter und sein Weltbild. Was immer Erster Weltkrieg und Revolution zur Radikalisierung Hitlers beigetragen haben mögen, die Grundlagen sind bereits vorhanden.“
So folgen die Autoren der Kindheit und Jugend ihres Protagonisten von Braunau, Lambach, Leonding, Linz und Steyr bis später zu den Aufenthalten in Wien. Der Schwerpunkt liegt aber eindeutig in Oberösterreich, wo Hitler zunächst in einer gut situierten Mittelstandsfamilie aufwächst. Der Leser erfährt vom jähzornigen Vater, der seinen Sohn häufig schlägt, von Adolfs Vorliebe für Karl May bzw. dessen Häuptling Winnetou, der Schmerzen stoisch erträgt, von der Mutter, die sich um den schwächlichen Adolf auch aufgrund des frühen Todes von vier Geschwistern übermäßig sorgt. Das böte genug Stoff für jede Menge Küchenpsychologie, derer sich die Autoren aber enthalten.
Leidinger/Rapp über Hitler: „Hedonistischer Lebensstil“
Vielmehr zeichnen sie detailliert die Schullaufbahn Hitlers nach – von den Anfängen als guter Volksschüler, der allerdings als Rädelsführer bei diversen Streichen und Sachbeschädigungen hervortritt, bis zum späteren Scheitern in der Realschule. „Regulative, Normen, Anweisungen, Ein- und Unterordnen, Einfügen in eine Gruppe, geregelte Arbeits- und Zeitpläne: Das alles lehnt er zugunsten eines hedonistischen und unregelmäßigen Lebensstils ab. Nur was Spaß macht, zählt“, heißt es etwa. Auch dem gesellschaftlichen Abstieg nach der Pension bzw. dem Tod des Vaters bzw. der späteren Geldnot widmen die Autoren immer wieder Raum.
Den Charakter Hitlers lassen sie etwa seinen damals einzigen Freund aus Jugendtagen, August Kubizek, beschreiben: Ihn „beschäftigte und beunruhigte“ alles, ihm „blieb nichts gleichgültig“. „Harmlose Dinge, ein paar unbedachte Worte etwa, konnten Zornesausbrüche bei ihm hervorrufen, bei denen meiner Ansicht nach der Gefühlsaufwand in keinem Verhältnis zu der Geringfügigkeit der Sache stand.“
Gleichzeitig wird Hitler in seinem gesellschaftlichen Umfeld verortet – vom antislawischen Abwehrkampf gegen Tschechen in Linz bis zum schwelenden bzw. offenen Antisemitismus. So ist damals in christlich-sozialen Zeitungen etwa zu lesen, wenn „dem Judentum die Geldzufuhr abgeschnitten wird, dann muß es selbst weichen und Österreich wird von der ekligen Läuseplage befreit“.
Hitler hat Feindbilder „verarbeitet und verinnerlicht“
Besonders antisemitisch eingestellt war der junge Hitler allerdings nicht, konstatieren die beiden Autoren. „Alles in allem besteht kaum ein Zweifel: Hitler hat sich in Oberösterreich ‚weder eine geschlossene antisemitische Weltanschauung angeeignet‘, wie er in ‚Mein Kampf‘ vorgibt, noch ist bei ihm zu dieser Zeit eine gerade auch unter Deutsch-Österreichern verbreitete judenkritische Haltung ausgeprägt.“
Buchhinweis
Hannes Leidinger/Christian Rapp, Hitler – Prägende Jahre. Kindheit und Jugend 1889-1914. Residenz Verlag, 224 Seiten, 24 Euro
Allerdings: Eine Reihe von Feindbildern der Jahrhundertwende, insbesondere den Hass auf die Slawen und Juden, habe Hitler verarbeitet und verinnerlicht, schreiben Leidinger und Rapp. „Ungeachtet seiner Distanz zur Parteipolitik und seines allgemeinen Mangels an sozialem Engagement in den ersten Lebensdekaden sind frühe weltanschauliche Orientierungsmuster erkennbar. Vor allem das ‚völkische‘ Denken ist Teil seines wenig originellen Weltbildes.“ Etwas weniger detailliert verfolgen die Autoren die Spuren Hitlers in Wien. Zäsur des Buches ist schließlich das Ende des Ersten Weltkriegs und Hitlers Aufbruch nach München.